Gießen: „Alp Arslan“

UA-Premiere am 04.05.2019

Die Stadt ist zu alt, um zu sterben!

Eroberungsversuche, Intrigen, unfähige Herrscher … das gab es in der Geschichte der Menschheit schon viele Male. Doch prallen bei Alp Arslan, einer Auftragsoper des
Stadttheaters Gießen, gleich mehrere Welten aufeinander. Nicht nur, dass ein Eunuch, in der Tradition kastriert und als Sklave gehalten, zum Rivalen
des jungen, labilen und widerlich grausamen Thronerben des Sultans wird. Sondern auch verschiedenste religiöse und kulturelle Gruppen vereinen sich in der Geschichte und musikalischen Sprache dieser Oper. Im Aleppo des 12. Jahrhunderts stirbt der Sultan und dessen erster Sohn. Der jüngere Alp Arslan, der den letzten Abschied des Vaters verweigert, wird sein Nachfolger. Und so beginnt die Schreckensherrschaft in einer Stadt, die für politische, ethnische und kulturelle Vielfalt stand. Der Untergang Aleppos und somit die Idee zu dieser Oper lieferte Willem Bruls, Librettist und Spezialist für die Kultur des Nahen Ostens.

Mit dessen eigenen Erfahrungen und persönlichen Aufzeichnungen entstand dieses Werk. Die Musik, die ganz im Dienste des Textes steht, stammte aus der Feder Richard van Schoors. Sie stellt eine grausame und liebkosende Umrahmung der Worte dar und schafft es gleichzeitig, mit original aleppischen Melodien das Publikum in eine fernöstliche Welt zu entführen. Eine syrische Band sowie ein syrischer Sänger, der Muezzingesänge anklingen lässt, unterstützen das Ganze.
Der Gießener Hauschor lässt dieses Mal Töne und Klänge verlauten, die selten im
städtischen Theater wahrzunehmen sind. Es ist ein Genuss der höchsten Sorte. Chorleiter Jan Hoffmann bringt seine Sänger und Sängerinnen zu maximaler Präzision in Dynamik, Stil und Klangfarbe.

Bei den Solisten und Solistinnen muss ausgeholt und ebenso zu einem Loblied angesetzt werden, allen voran im Hinblick auf die Stimme des Eunuchen Denis Lakey. Der in Kapstadt geborene Countertenor gibt der Rolle nicht nur stimmlichen Glanz von Extravaganz und Vielfältigkeit einer Vierteltonmusik – von der Schwierigkeit ganz zu schweigen -, sondern trifft emotional und spieltechnisch mitten ins Herz. Den Beweis für seine extreme stimmliche Qualität und Gesangstechnik kann sich jeder in einer der fünf nachfolgenden Vorstellungen am Stadttheater Gießen holen.
Rena Kleifeld, die Großmutter des Alp, lässt mit voller Brust einen tiefen Alto erklingen, dass die Bühne wackelt. Auch die junge Mezzosopranistin und Mutter des Alp, Marie Seidler, zeigt uns einen volltönigen Stimmumfang von zweieinhalb Oktaven mit gewaltiger Tiefe. Die Frauen geben somit in dieser Oper den tiefschwingenden Bass-Ton an.

Daniel Arnaldos, der spanische Tenor, der die Titelrolle in sich hat, lässt das Blut
gefrieren, wenn er mit geschmeidiger und jung agiler Stimme den hitzköpfigen grausamen Alp Arslan singt. Als Sultan ist Tuncay Kurtoglu zu hören. Tomi Wendt gibt den Emir von Damaskus. Keinem dieser Solisten und Solistinnen schien die Schwierigkeit der Tonumfänge etwas auszumachen. Mit hoher Dramatik und schwieriger Polyphonie im Orchester entsteht eine ferne und zugleich intime Atmosphäre.

Sehr überzeugend geriet auch das Bühnenbild von Marc Jungreithmeier.
Dieser brachte unter der Regie von Intendantin Cathérine Miville ein bewegliches
Spektakel auf die Bühne. Im geschichtlichen Thema des syrischen Aleppos im Zwiespalt der Kulturen und Religion erreicht Cathérine Miville das Publikum mit klaren Bildern. Die Sicht der muslimischen Bevölkerung auf die Kreuzzüge in Levante zeigt einen intimen Einblick in die Folgen der Schlacht in Syrien von heute.
Das Miteinander verschiedenster Kulturen und Menschen beherrscht die Stadt Aleppo heute wie damals, und in gewisser Weise tut das auch Gießen.

Das Stadttheater hält uns die Kraft – und manchmal auch die Brutalität – einer bunten Vielfalt vor Augen. Mit van Schoors Welturaufführung ist nicht nur ein klangliches Meisterwerk geschrieben, sondern vielleicht auch eine neue Opernära angebrochen. Die Oper ist zu alt, um zu sterben, möchte man in Anlehnung an ein Zitat aus dem Libretto ausrufen ("Die Stadt ist zu alt, um zu sterben").
Das war auch dem Publikum des Premiereabends anzumerken. Mit einem
langanhaltenden Applaus gab es nicht nur den Sänger und Sängerinnen ihr Bravo.
Ebenso dem Regieteam, dem Komponisten und Librettisten, die eigens für ihre
Welturaufführung nach Gießen angereist waren, wurde anerkennender Jubel zuteil.

Dominique Suhr, 6. Mai 2019

Bilder (c) Rolf K. Wegst