Gießen: Königskinder

Bericht von der konzertanten Premiere am 10. Februar 2019

Der Zauber der Urfassung

An der Garderobe sind sich nach der Premiere alle einig: „Das war was Besonderes!“ Geboten wurde zuvor etwas, das man nur aus Fußnoten in Opernführern kennt: die Urfassung von Humperdincks Königskindern. Schon die Endfassung steht nur selten auf den Spielplänen, die Urfassung jedoch war bislang lediglich ein Fall für Musikwissenschaftler. Soweit ersichtlich ist noch nicht einmal eine Einspielung auf Tonträger verfügbar. Humperdinck habe sich seinerzeit zur Umarbeitung in eine „echte“ Oper entschieden, weil die Verwendung der Form des Melodrams einer Verbreitung des Werks im Wege gestanden habe, so liest man es allenthalben in Programmheften. Gerne wird dann betont, daß der Komponist eine besondere Notation des intendierten Sprechgesangs mit präzisem Rhythmus und Vorgabe von Tonhöhen eigens für dieses Stück erfunden habe. Schönberg und andere Neutöner hätten daran angeknüpft. Wie das aber geklungen haben mag, bleibt dem Leser ein Rätsel. Das Stadttheater Gießen führt es nun in zwei konzertanten Vorstellungen vor. Generalmusikdirektor Michael Hofstetter hat sich dafür entschieden, nur die Musikpassagen zu präsentieren und den reichlich vorhandenen reinen Sprechtext zu streichen. Verbindende Zusammenfassungen der Handlung zur Überleitung zwischen den Musikpassagen spricht er höchstselbst und führt so mit Nonchalance durch einen ungemein faszinierenden und musikalisch beglückenden Abend.

Eine auf die auskomponierten Teile reduzierte Aufführung dauert immerhin noch drei Stunden, inklusive Pause, kommt aber wegen des Wegfalls von über einem Dutzend Sprechrollen mit lediglich vier Darstellern aus. Natürlich sticht aus dem Besetzungszettel ein großer Coup heraus: Für die Partie der Hexe hat das kleine mittelhessische Haus die Sängerlegende Anja Silja gewinnen können. Viele Jahrzehnte lang war sie weltweit eine führende Interpretin jugendlich-dramatischer Partien von Wagner bis Strauss. In den letzten Jahren war sie überwiegend in Charakterrollen zu erleben, etwa in Frankfurt als Mumie in Reimanns Gespenstersonate oder als Babuschka in Prokofjews Spieler. Nun reiht sie sich unprätentiös in ein starkes Ensemble ein. Zu singen hat sie nur wenige Töne. Den Sprechgesang im Übrigen gestaltet sie streng und mit scharfer Diktion. Auch wenn sie nur an der Rampe steht und deklamiert, schlägt ihre Bühnenpräsenz in den Bann. Trotzdem stiehlt sie den Protagonisten nicht die Show. Die wunderbare Marie Seidler, die zuletzt als Cherubino in Mozarts Figaro einen starken Eindruck hinterlassen hat, begeistert in der Rolle der Gänsemagd. Wie sie mit ihrem saftigen Mezzo Sprache zum Gesang macht, dann immer wieder bruchlos vom klangvollen Sprechen in blühendes Singen übergeht, fasziniert außerordentlich. Genau das muß Humperdinck im Sinn gehabt haben, als er seine neue Form des singenden Sprechens auf Notenlinien schrieb. Seidler präsentiert diese ungewöhnliche Darbietungsform, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Lediglich an einer Stelle vermißt man die spätere Fassung der Oper: Im Gebet der Gänsemagd („Vater, Mutter, hier will ich knien“) hätte man die junge Sängerin gerne mit durchgängigem Gesang gehört. Die meisten „echten“ Gesangseinsätze hat die Nebenfigur des Spielmanns. Seine volksliedhaften Darbietungen präsentiert Gregor Dalal mit markantem Baßbariton. Abgerundet wird das Ensemble von Daniel Johannsen, der hellstimmig und mit präziser Artikulation einen guten Eindruck als Königssohn hinterläßt.

Getragen wird der Abend aber von der staunenswerten Leistung des Philharmonischen Orchesters Gießen. Bereits bei der im Vergleich zur Endfassung ausgedehnten Ouvertüre zeigen sich die Musiker in Hochform. Michael Hofstetter hat mit ihnen einen ungemein farbigen, gut gestaffelten und ausgezeichnet durchhörbaren Klang erarbeitet. Rhythmisch präzise und schwungvoll in den lebhafteren Passagen, unsentimental klar und doch mit leuchtendem Ton in lyrischen Momenten vermittelt das Orchester ein abwechslungsreiches und plastisches Bild dieser herrlichen Partitur. Trotz reduzierter Streicherbesetzung ist der Klang nicht dünn, stimmt die Balance zu den Holz- und Blechbläsern. Das stark geforderte Solohorn imponiert mit anscheinend anstrengungsloser Sicherheit und rundem Ton. Der Konzertmeister serviert seine Soli mit unsentimentaler Süße. Wo man auch hinhört, es ist eine wahre Freude.

Nur noch eine weitere Aufführung gibt es am 15. Februar. Wer immer die Zeit erübrigen kann, sollte sich diese Aufführung nicht entgehen lassen. Denn: Das ist was Besonderes!

Michael Demel