Gießen: „Mala Vita“, Umberto Giordano

Premiere: 15.09.2018, besuchte Vorstellung: 10.11.2018

Giordano trifft Gesualdo

Lieber Opernfreund-Freund,

das Stadttheater Gießen erweist sich erneut als regelrechtes Trüffelschwein und hat in der laufenden Spielzeit Umberto Giordanos Mala Vita ausgegraben und das rund einstündige Werk mit Madrigalen Gesualdos ergänzt. Diese Kombination des an sich Gegensätzlichen funktioniert blendend und hat mir einen beeindruckenden Musiktheaterabend beschert.

Umberto Giordanos zweite Oper Mala Vita gilt als radikalster Verismo. 1888 hatte der aus Foggia stammende Komponist am Wettbewerb für Operneinakter des Verlegers Edoardo Sanzogno teilgenommen und zwar nicht gewonnen – das hatte bekanntermaßen Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana – jedoch so viel Eindruck auf den Musikverleger gemacht, dass dieser bei Giordano ein Werk in Auftrag gab. Mala Vita – zu Deutsch Das schlechte Leben – wurde 1892 uraufgeführt und erinnert in Aufbau und Handlung sehr an Mascagnis Prototypen, ist allerdings in Neapel angesiedelt und zeigt für damalige Verhältnisse erstaunlich deutlich die Missstände und das deprimierende Milieu der Arbeiterschaft. Der tuberkulöse Färber Vito gelobt als Dank für seine Genesung, eine gefallene Frau zu retten und will die Prostituierte Cristina heiraten, um sie auf den bürgerlichen Pfad zurück zu führen – sehr zum Missfallen seiner Freundin Amalia, die alles daran setzt, Vito zurück zu gewinnen. Sie triumphiert und zieht mit Vito aufs Fest, während Cristina einsam zurück bleibt.

Giordanos Musik ist ein buntes, packendes und bewegendes Konglomerat aus Tänzen und neapolitanischen Kanzonen vollen Lokalkolorit, bewegenden Vorspielen und Instrumentalpassagen und atmosphärisch dichten Klangbögen, die zeitweise voller Schroffheit und instrumentaler Wucht nur so strotzen, um – ganz nach der veristischen Maxime – die Gefühle der Protagonisten auf der Bühne auch wahrhaftig hörbar zu machen. In Gießen nun, hat man dieser intensiven, aus dem vollen schöpfenden Musik den zarten, schlanken Klang von Madrigalen aus der Feder von Carlo Gesualdo gestellt und so mit einem musikalischen Gegenpol gearbeitet. Das Solistenensemble, das Gesualdo singt, steckt in herrlichen Renaissance-Kostümen von Claudia Krull und tritt wie aus einem Setzkasten heraus auf das ansonsten schlichte Bühnenrund von Lars Peter. Regisseur Wolfgang Hofmann hatte die geniale Idee, die Madrigalsänger als Zeremonienmeister der Erfüllung des Gelübdes zu inszenieren, die historisch gewandeten Sängerinnen und Sänger führen die Protagonisten der Giordano’schen Oper, legen Ihnen Requisiten in die Hand und leiten sie zu Handlungen an. Die genau austarierte Personenführung schafft eine zusätzliche Spannungsebene, so dass die Madrigale nicht nur als Füllmaterial für eine zu kurze Oper erscheinen, sondern eine neue Dimension eröffnen.

Auch musikalisch wird allerhand geboten am gestrigen Abend. Angela Davis ist die Königin in einen durch die Bank blendend aufgelegten Solistenensemble, verkörpert die bedauernswerte Cristina zwischen Liebe, Hoffnung und Verzweiflung und zaubert mit ihrem voluminösen Sopran die herrlichsten Farben. Vero Miller als ihre Gegenspielerin Amalia versieht ihren warm strömenden Mezzo mit der notwendigen Schärfe, wenn sie sich von der Geliebten in eine streitbaren Furie verwandelt, so gelingen ihr beeindruckende Ausbrüche. Denis Yilmaz gestaltet den hin- und hergerissenen Vito mit kraftvollem Tenor, solider Höhe und hinreißenden Piani. Die wahrhaften Gefühle, die der türkische Sänger über den Graben schickt, machen ihn zu einem Verismo-Sänger, der Giordano höchst selbst gefallen hätte. Florian Spiess ist nicht nur körperlich überragend und beeindruckt mich als Marco mit samtenem, kultiviert klingendem Bass. Der junge Österreicher singt mit Verve und macht Lust auf mehr. Grga Peroš kann als Annetiello ebenso mit Wohlklang überzeugen wie Marie Seidler als Nunzia.

Das Gesualdo-Solistenensemble aus Ayano Matsui, Shawn Mlynek, Christopher Meisemann und Tomi Wend glänzt durch schlanken, fein aufeinander abgestimmten Klang und wird durch die zarte Höhe des Soprans von Ex-Ensemblemitglied Naroa Intxausti und den fast durchsichtig erscheinenden Counter von Christian Richter gekrönt. Und auch die Damen und Herren des Chores sind bestens disponiert, meistern die umfangreiche Partie mit Bravour. Dass Jan Hoffmann nicht nur als Leiter des Gesualdo-Ensembles und des Chores eine gute Figur macht, beweist er gestern Abend im Graben. Die veristische Wucht und Intensität gelingen ihm und dem Philharmonischen Orchester Gießen ebenso, wie die Reduziertheit und das Zerbrechliche der Musik der Renaissance. Innerhalb von Millisekunden zaubern die Musikerinnen und Musiker unter seiner Ägide eine andere Stimmung und entführen den Zuschauer in eine andere Sphäre.

Das voll besetzte Theater dankt es ihm und allen Mitwirkenden mit begeistertem und lang anhaltendem Applaus. Dass Ihnen nur noch eine weitere Aufführung bleibt, um diese Ausgrabung anzuschauen und meine Begeisterung zu teilen, ist schade – aber zumindest hat Gießen mit dieser Produktion Giordanos Mala Vita dem Vergessen entrissen.

Ihr Jochen Rüth 11.11.2018

Die Fotos stammen von Rolf K. Wengst.