Eine zeitgenössische Komische Oper: Das hat Seltenheitswert. Wenn sich die Damen und Herren Komponisten heutzutage mit dem Musiktheater befassen, dann muß es tiefgründig, literarisch und bitte experimentell sein. Die Opéra comique ist dagegen im 18. Jahrhundert als volksnahe Gattung des Musiktheaters, als Gegenentwurf zur tragischen (höfischen) Oper entstanden. Wenn nun die spanische Komponistin Raquel García-Tomás ein Stück vorlegt, das bei seiner Uraufführung 2019 in Madrid mit der Firmierung als „Opera buffa“ ausdrücklich Bezug auf die Tradition der leichten Muse im Musiktheater nimmt, ist das mutig angesichts der verkopften und hochkomplexen Erzeugnisse anderer zeitgenössischer Komponisten. Und es ist vor allem erfrischend.
Zu erleben ist eine spritzige Revue mit satirischer Grundierung. Es treten in kurzen und prägnanten Nummern auf: eine Katze, ein „Promi-Künstler“, eine „Erfolgsbloggerin“, ein „ungebildeter Poser“, eine „Performancekünstlerin“ und noch einige Gestalten mehr, die mit ätzender Ironie als lebende Karikaturen gezeichnet werden. Gespielt und gesungen werden sie hinreißend von Annika Gerhards und Ferdinand Keller in immer neuen Kostümen, für deren blitzschnellen Wechsel alleine man die beiden bereits bewundern muß.
Dieser kabarettartige Szenenwechsel ist eingefaßt in die Rahmenhandlung um die Kulturmanagerin Klothilde, die nach dem Tod ihres Katers die Hilfe eines Seelenklempners sucht und in Dr. Giovanni Tempesta auf einen Misanthropen trifft, für den Narzissmus und Individualismus die Wurzel allen Übels sind. Und wo er recht hat, hat er recht: Die von ihm präsentierte Parade der Ich-linge liefert den schlagenden Beweis. Beim therapeutischen Gespräch breitet Klothilde Szenen aus ihrer jüngsten Vergangenheit aus, die ihrerseits die Sackgassen von Individualisierung und Selbstverwirklichung satirisch bloßlegen. Polina Artsis als Klothilde und Tomi Wendt als Arzt spielen das köstlich aus. Bei den Szenen aus dem trostlosen Leben einer Kulturmanagerin bekommt dann auch die zeitgenössische „ernste“ Musik ihr Fett weg, wenn Annika Gerhards eine sinnfreie Tanzperformance darbietet, dazu in wilden Intervallsprüngen Tonfolgen singt und so eine Parodie liefert, die sich von „echten“ Darbietungen der Neue-Musik-Szene so wenig unterscheidet wie Hape Kerkelings legendäres „Hurz!“, das dann schließlich auch kurz zitiert wird.
Daß der vermeintliche Arzt sich am Ende als hochstapelnder Patient entpuppt, spricht nicht gegen die Weisheit seiner Erkenntnisse. Trotz der grell geschminkten Zeitkritik bleibt das Stück aber angenehm undidaktisch, fehlt der erhobene Zeigefinger, ohne den im deutschen zeitkritischen Kabarett nichts geht. Es herrscht im Text von Helena Tornero, oder jedenfalls in der von Arno Lücker besorgten deutschen Übersetzung, ein trockener und immer wieder selbstironischer Humor. Dieser kommt auch in den von der Librettistin selbst besorgten Szenen-Inhaltsangaben zum Ausdruck, die bereits für sich genommen kleine ironische Kunststückchen sind. Exemplarisch zur 7. Szene:
„Wie Klothilde an einer Trauerfeier teilnimmt. Über die vielen Dienstleistungen, die Bestattungsinstitute anbieten. Wie Messdienerinnen, Liebhaberinnen, One-Night-Stands und enge Freundinnen über ihren „Liebsten“ sprechen. Über falsche Namen und Tote mit einer Vergangenheit, die „pas très clair“ ist. (Und wenn wir schon bei der Verwendung der französischen Sprache in Anführungszeichen sind, um den Glamour der Urheber*innen dieser Kunst hier noch lichter erscheinen zu lassen: „La Bohème“ hat eine Menge Schaden angerichtet! Ganz zu schweigen von der „nouvelle vague“!)
Wem solche Preziosen gelingen, dem verzeiht man ausnahmsweise auch den Genderstern.
Prisca Baumann und Kerstin Grießhaber, die auch für die fantasievoll-überdrehten Kostüme verantwortlich zeichnen, haben als Kulissen auf der Gießener Drehbühne zwei schlichte Wände aufgestellt, eine Wand mit zerknitterter, spiegelnder schwarzer Folie und eine mit geriffelter, blauer Tapete. Die Wände treffen sich zu einem Keil, dessen Zwischenraum ebenfalls bespielbar ist und als Innenraum einer Zen-Meditations-Parodie dient. In diesem schlichten Spielfeld zündet Regisseurin Ute M. Engelhardt mit leichter Hand ein perfekt getimtes szenisches Pointenfeuerwerk, das den Humor der Vorlage kongenial umsetzt. Das Geschwisterpaar Michele und Giuseppe de Filippis ist dabei für choreographische Anteile verantwortlich, die sich nahtlos in das szenische Geschehen einfügen.
Und die Musik? Die gibt sich nostalgisch und greift oft auf den Sound des symphonischen Jazz der 1930er Jahre zurück, wie er auch typisch für die musikalische Untermalung von Cartoons der Zeit war, worauf die Komponistin mit einigen Slapstick-Geräuscheffekten anspielt. Mitunter gibt es auch bloß Scott-Joblin-artige Ragtimes vom Klavier. Wagners Tristan-Akkord wird an geeigneter Stelle zitiert, auch Puccinis Mimí verirrt sich mit einigen Takten auf eine Beerdigung, beim Auftritt der Influencerin wird elektronische Musik verwendet. Das Philharmonische Orchester Gießen präsentiert diesen Stilmix unter der Leitung von Andreas Schüller süffig und auf den Punkt genau zum Bühnengeschehen.
Insgesamt bietet das Stadttheater Gießen hier ein hinreißend gespieltes und fabelhaft musiziertes Pointenfeuerwerk, das in 90 dichten Minuten zum kurzweiligsten gehört, was man seit langem auf einer Opernbühne präsentiert bekommen hat. Die Produktion ist perfekt geeignet für den ersten Kontakt mit dem Musiktheater und bietet eingefleischten Opernfans eine erfrischende Abwechslung.
Michael Demel, 13. November 2024
Ich, ich, ich!
(Je suis narcissiste)
Komische Oper von Raquel García-Tomás
Text von Helena Tornero
Stadttheater Gießen
Premiere und deutsche Erstaufführung am 9. November 2024
Inszenierung: Ute M. Engelhardt
Musikalische Leitung: Andreas Schüller
Philharmonisches Orchester Gießen
Weitere Termine: 17. November, 13., 15. und 29. Dezember 2024