Schon die Ouvertüre macht fassungslos, dass ein solches Monstrum an überrealistischer Energie und Farbenreichtum über 100 Jahre im Schneewittchensarg ruhte. Ist es die gekränkte Eitelkeit weniger begabter Komponisten oder die späte Rache eines überwiegend mit Männern besetzten Kulturbetriebs, weil Ethel Smyth sich aktiv für die Rechte der Frauen einsetzte? Ist es die Trägheit oder Ignoranz vieler Theater, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen? Schließlich bräuchte es ja nicht nur Mittel, sondern engagierte Dirigenten, Orchester und Ensembles, Monumentalwerke wie dieses zu durchdringen und zur Bühnenreifen zu bringen. Traut man sich etwa nicht an Neuproduktionen, um das Stammpublikum nicht zu vergrätzen, das lieber im bewährten Turnus die 50 gängigsten Opern sehen will? Nicht so in Meiningen. Intendant Jens Neundorff von Enzberg hat es sich auf die Fahne geschrieben, Schätze zu finden, auszugraben und sie zu präsentieren. Das braucht Zeit, Überzeugungskraft und fähige Künstler. Dass aus einem Rohdiamanten ein Juwel wurde, verdankt diese Oper in erster Linie GMD Killian Farrell, der diese Komposition ausbalancierte, Szenen zusammenfügte und teilweise retuschierte. Regisseur Jochen Biganzoli belässt die Personen in diesem Stück ganz im Sinne der Komponistin. Das ist richtig, denn sie sind authentisch zeitlose Charaktere und Handelnde. Fraglos ein Coup ist Alexandre Corazzolas Idee, die Handlung vor, in und unter einem riesigen weißen Kubus stattfinden zu lassen. Er definiert ihn als „Bubble“, als Blase, in der die Dorfgemeinschaft abgekapselt von der Außenwelt lebt. Er lässt sich drehen, beschriften, teilen, schließt ein oder aus.
Ethel Smyth (1858-1944) fand die Idee für ihre Oper in einer Legende von Strandräubern, die an der Küste Cornwalls Schiffe zum Kentern brachten, die Besatzung töteten und die Fracht raubten. Begeistert vom Libretto, das der befreundete amerikanische Schriftsteller Henry Bennett Brewster in französischer Sprache verfasste, komponierte sie die Urfassung. Trotz vieler Widerstände wurde „Das Strandrecht“ 1906 in Leipzig uraufgeführt, ärgerlicherweise gekürzt und verpfuscht. Erst später feierte das Werk in England Erfolge. Die Musik ist überwältigend, erinnert an Wagner und Bizet, Brahms und Mahler, Tschaikowsky und Richard Strauss. Hochemotional und dramatisch steckt in jedem Part ein gewaltiges Maß an Energie und Wut und prägt damit ihren ganz eigenen Stil.
An der Küste Cornwalls lebt völlig abgeschottet eine kleine Dorfgemeinschaft, die nur dadurch überlebt, dass sie Schiffe bei Sturm in die Irre leitet. Der Leuchtturmwärter Laurent, wohl die einflussreichste Person, dargestellt von Marc Hightower, löscht die Warnfeuer, die Schiffe kentern und die Besatzung wird getötet. Das Raubgut dient allen zum Überleben. Niemand fühlt sich schuldig. Tomasz Wija, als dogmatischer Guru Pasko, legitimiert das Treiben, indem er seine Schäfchen als von Gott Auserwählte proklamiert, die Andersgläubige vernichten dürfen. Nur dessen junge Frau Thurza, eine Fremde, findet diese perverse Bigotterie abscheulich und distanziert sich. Karis Tucker lenkt nahezu atemberaubend die Aufmerksamkeit auf diese Person, die anfangs noch scheinbar unbeteiligt kaum eine Rolle spielt. In Marc, dem Fischer, verkörpert von Alexander Geller, findet sie einen Gleichgesinnten und sie verbindet eine heimliche Liebe. Doch da gibt es noch Avis, die Tochter des Leuchtturmwärters, die früher mit Marc liiert war und ihn noch begehrt. Emma McNairy verpasst dieser jungen Frau ein unglaubliches Temperament und lässt sie als Furie und Aufwieglerin agieren. Sophie, die Tochter des Wirts, liebt sie und lässt sich nur zu gerne von ihr benutzen. Sara-Maria Saalmann verleiht diesem hyperaktiven Teenager direkt sympathische Züge. Ganz anders Selçuk Hakan Tıraşoğlu, denn er muss als Laurents Schwager ins gleiche Horn blasen. Da erscheint Tobias Glagau als feuchtfröhlicher Wirt Tallan direkt harmlos.
Schon die ersten Szenen zeigen, welche bedeutende Rolle der Chor übernimmt. David Rothenaicher schafft hier nicht nur ein vokales Glanzstück, sondern lässt dieses Volk in seinem Wesen lebendig, gewaltig und im Negativen erschreckend lebensecht agieren. Rein äußerlich erscheinen sie recht unspektakulär in Arbeits- und Alltagskleidung, aber je nach Anlass mutieren sie von harmlos Gläubigen zum fanatisierten und gewaltbereiten Mob.
Voller Inbrunst erklingt der Choral aus der Kirche. Dort werden sie befeuert und bestärkt, das Richtige zu tun: Wir sind arm, wir haben Hunger, deshalb dürfen wir töten. Fast fröhlich und beschwingt – der Choral mutiert zur Gigue – trifft man sich draußen. Es ist Sonntag, ein Sturm zieht auf – wie wunderbar – denn das verspricht Beute.
Ethel Smyth verwendet durchgängig Leitmotive, die Killian Farrell klangmalerisch und transparent herausarbeitet. Das Thema der Strandräuber lädt förmlich ein mitzumachen. Ganz deutlich hört man auch das Meer, das Plätschern der Wellen, das Tosen des Sturms. Marcs Melodie ist volksliedhaft, hoffnungsvoll in Dur, Thurzas dagegen in Moll, weit pessimistischer.
Die Situation der Dörfler spitzt sich zu. Das ersehnte Strandgut bleibt aus, die Verzweiflung nimmt zu. Die Vermutung, dass ein Verräter die Schiffe warnt, alarmiert. Avis schürt den Verdacht, dass Thurza, die Fremde und Außenseiterin, oder gar Pasko dafür verantwortlich sei. Auf den Milchglasscheiben des Kubus finden sich immer mehr ausländerfeindliche Parolen voller Hass, die Musik steigert sich ins Bedrohliche. Marc ist derjenige, der heimlich mit Thurza Warnfeuer entzündet. Man sieht ihn draußen bei den Vorbereitungen, doch sie will das verhindern, aus Angst, dass ihm etwas passieren könnte. In einem überbordenden Liebesduett, „Herzen in Pein, Seelen in Sorge“, das an Tristan und Isolde erinnert, klagen sie sich ihr Leid und entzünden das Feuer. Dann beschließen sie, in der nächsten Nacht zu fliehen. Wächter greifen den betrunkenen Pasko in der Nähe des Feuers auf. Er wird vom „Rat von Cornwall“ für schuldig erklärt und soll gerichtet werden. Avis gibt der „fremden Schlange“ Thurza die Schuld und möchte sie auch beseitigen. Als Marc sich als Täter outet, will sie ihn mit einem falschen Alibi retten, aber Thurza bekennt sich zu ihrem Geliebten. Beide werden gefesselt und von den Wellen überspült. Ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen im Grab lässt sie den Tod nicht fürchten. Der Kubus senkt sich, umschließt die Gemeinde, alles ist wieder beim Alten, die Verräter sind tot und „Der Sturm bricht los“. Wie wunderbar für die Leute!
Ethel Smyth hat für diese Oper starke Frauenrollen mit ausgeprägten Charakteren geschaffen, die in dieser Aufführung exzellent besetzt sind. Die Männer wirken dagegen fast emotions- und farblos. Vielleicht war das ein Seitenhieb auf unliebsame und bornierte Zeitgenossen.
Welche Intention verfolgt sie mit diesem Drama? Es gilt, die Vorgänge und Beweggründe hinter einem Geschehen aufzuzeigen. Ein naives Volk lebt in einer „Blase“, hört, sieht und glaubt nichts anderes, als das, was ein autoritärer Führer ihnen eintrichtert. Das können politische, religiöse oder wirtschaftliche Inhalte sein. Sie wertet nicht, es gibt keine Bösen, keine Guten, sondern einfach Menschen in ihrer Lebenssituation, die es zu verbessern gilt und jeder ist der festen Überzeugung, das Richtige zu tun. Gibt einer den Weg vor, ist das bequemer, als selbst zu denken.
Jochen Biganzoli sieht sich in der Verantwortung, den Finger in die Wunde zu legen. Die Geschehnisse an Cornwalls Küste sind keine Parabel, sondern Fakt und erschreckend aktuell. Die zunehmende Radikalisierung findet nicht nur im Nahen und noch näheren Osten statt, sie ist weltweit en Vogue und auch bei uns. Längst dreht es sich nicht mehr nur um Minderheiten, die ideologisiert Angst verbreiten. Terrorakte werden alltäglich und machen Schule. Worten folgen Taten, und so lässt er die Scheiben der Blase mit ausländerfeindlichen Parolen, Drohungen und Aufrufen zu Gewalt beschmieren.
Niemand aus dem Publikum wird dieses Opernerlebnis einfach wegstecken. Distanz geht nicht. Zu gewaltig und eindrucksvoll ist die Musik, zu brillant das Ensemble. Kaum einer wird zuhause müde in die Kissen sinken und gleich einschlafen. Zu nachhaltig sind die Bilder, zu unfassbar, was da geschah und individuell verarbeitet werden muss.
Frenetischer Applaus huldigt Killian Farrell und seiner Meininger Hofkapelle, feiert das Ensemble, den Chor und Regisseur. Ethel Smyths Musik muss auf die Bühnen, in die Konzertsäle und in die Medien. Und Jens Neundorff wird dringend gebeten, weiter zu graben, nach verborgenen Schätzen.
Fazit: Unbedingt ansehen! Reinhören auf der Homepage des Staatstheater Meiningen
Inge Kutsche, 28. Oktober 2024
The Wreckers
(Die Strandräuber)
Oper von Ethel Smyth
Staatstheater Meiningen
Premiere der Erstaufführung in deutscher Sprache
am 25. Oktober 2024
Regie: Jochen Biganzoli
Musikalische Leitung: Killian Farrell
Meininger Hofkapelle
Weitere Vorstellungen: 3., 13., 15., 20. November 2024, 12. Januar und 23. Februar 2025