Premiere: 3.6.2018., besuchte Vorstellung: 18.7.2018
Dass man innerhalb von 6 Wochen zweimal in die selbe Oper mit der selben Besetzung gehen, sich keine Sekunden langweilen und neue Details wahrnehmen kann: dies spricht für eine sehr gute Produktion, in der alles stimmt. Die allerletzte Aufführung des „Ritorno d’Ulisse in Patria“ – nein, so schön wird er nie wiederkommen – war denn auch sehr gut besucht; frühere Abende scheinen nicht ganz so ausverkauft gewesen zu sein wie die ZLM („Zum letzten Mal“)-Aufführung. Es mag am warmen Sommerwetter gelegen haben, bei dem sich die „normalen“ Opernzuschauer lieber ausruhen als in so etwas wie einer „unbekannten“ Oper anstrengen wollen. Es sei ihnen gegönnt, doch alle, die nicht dabei waren, haben etwas verpasst: einen so leichten wie intelligenten, humorvollen wie tiefsinnigen Opernabend erster Güte. Denn Mariame Clément hat zusammen mit Julia Hansen einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem die Konflikte und Themen von 1640 unmittelbar wirken., wofür man nicht einmal irgendein pseudo-„realistisches“ Theater braucht – nur ein paar sehr hübsche Zaubereffekte und die Naivität eines lustvollen Theaters (samt Revuenixen, in deren Bad sich Held Odysseus witzigerweise älter machen lassen kann). Die Zuschauerin neben dem Kritikerplatz hatte schon Recht, als sie den Zuschauerraum betrat: „Der Blick auf das Meer ist schon mal gut“. Was macht: die Bänder, die, zusammen gesehen, ein monumentales und ruhiges, mit griechischem Licht durchgoldetes Meer zeigen und sich ganz zart im zufälligen Luftzug bewegen, somit die Wellen ganz leicht zum Tanzen bringen. Und vergessen wir nicht die Kostüme: wenn Penelope in der Bogenszene mit einem höchst stilvollen, zudem dramaturgisch sinnvollen, tiefschwarzen, doch durch zarte Silberpunkte akzentuierten Kleid auftritt, ist nicht nur das Glück des Couturiers unter den Zuschauern vollkommen.
Eine zweite Rezension birgt zudem die Chance, auf Versäumtes aufmerksam zu machen; der Kritiker ist, man glaubt es nicht, ja auch nur ein Mensch. Also darf und muss ich das Lob für Yongseung Song verstärken: der Tenor besticht, wie ich geschrieben habe, nicht nur mit den parodistischen Koloraturen des komischen Schmarotzers Iro. Man hört nämlich deutlich, dass Song auch, bei guter Pflege, erstrangige Tenorpartien singen könnte, in denen das sog. Heldische und das Lyrische gleichermaßen glänzen würden. Über die Penelope der Jordanka Milkova muss ich nichts Neues schreiben, denn noch immer betört sie durch den dunklen Glanz ihrer Stimme, durch Intensität im Ausdruck des Leids, durch Genauigkeit der Diktion – und durch ihr faszinierendes Spiel. Zu den Höhepunkten der Aufführung gehört sicher das Mienenspiel zwischen ihr, die gerade von den Freiern bedrängt wird, weil sie scheinbar kurz davor stehen, sie mit Odysseus‘ Bogen zu gewinnen, und ihm, dem Bettler, hinter dessen Maske sie – das scheint mir eindeutig zu sein – bereits ihren verschollenen Mann erkennt. Was für eine Aura!
Nebenbei: komplexe Inszenierungen wie diese, die nur aufs erste Zuschauen relativ einfach (wenn auch theatralisch äußerst ergiebig) daherkommen, verstärken beim zweiten Mal nicht ganz unwichtige Fragen. Wie also verhält es sich mit Penelopes radikalem Treueschwur? Ist er wirklich moralisch so glanzvoll – oder besitzt die Unbeugsamkeit, mit der sich die Gattin schier durchs Leben quält, nicht auch etwas Pathologisches? Und wie sieht es aus mit dem Dienerpaar, also der glänzenden Irina Maltseva und dem Eurimaco des Dávid Szigetvari? Ist diese Melanto wirklich nur „sexy“, weil sie nur ein Interesse zu haben scheint, indem sie sich von ihrem Eurimaco gern begrabschen lässt? Nun erst fiel mir auf, dass das Gespräch zwischen der Dienerin und ihrer Herrin ungewöhnlich vertraulich ist. Nicht allein, dass sie, die eine soziale Welt trennt, ihre Hände wie Freundinnen aufeinander legen – ist es nicht so, dass die Dienerin wirklich mit ihrer Herrin mitleidet und nicht nur aus egoistischen Gründen möchte, dass endlich wieder am Hof das fröhliche Leben der Vergangenheit wiederkehrt? Ist nicht ihre Ansicht, dass man den Toten und sich selbst nichts Gutes tut, indem man ihnen und sich ewig treu bleibt, zutiefst menschlich und vernünftig? Erweist sich hier nicht die Dienerin als moderne Psychologin: gegen den Mythos der angeblich ewigen Liebe? Und ist ihre Musik nicht wesentlich tiefsinniger als das, was die Worte sagen? „Ein so schönes Band wird niemals reißen“, singen die beiden jungen Leute am Ende ihrer ersten Vereinigungsszene, aber die Musik weiß es besser. Sie weicht plötzlich in ein tieftrauriges Moll aus. Man ahnt etwas, am Ende weiß man, dass wieder einmal mehr Hoffnung als Erfüllung war. Die beiden Turteltäubchen scheinen es selbst schon im tiefsten Unbewussten, das nur die Musik eröffnen kann, zu wissen. Was für eine sensible, gar nicht banale Musikdramaturgie!
Und so fällt noch einmal und von Neuem vieles auf, was im ersten Durchgang zwar schon existierte, aber von der Fülle der Informationen ins Unbewusste des Beobachters verschoben wurde. Wie gesagt und immer wieder: Ein Kerl soll zwar, wie der Kritiker Alfred Döblin ganz richtig bemerkte, eine Meinung haben, aber er ist auch nur ein Mensch. Und so entdeckt er erst jetzt, dass mit der Metapher des Theaters auf dem Theater noch einmal mehr gespielt wurde: Odysseus spielt, indem er sich als alter Mann maskiert, Theater auf dem Theater auf dem Theater. Was wieder auffiel, aber jetzt ausdrücklich gewürdigt werden muss: die Statisten und Choristen spielen alle phänomenal gut. Es ist wirklich nicht selbstverständlich, dass jeder Kleindarsteller und jedes Chormitglied in jedem Augenblick „in der Rolle drin“ ist. Allein wie sie, die südländischen Machos, beim Aufruf zum Fest, um die (eine und einzige und bedrängte) Frau herumtanzen – das ist, in der ambivalenten Mischung aus Freude und latenter Gewalt, großes Kino. Ich habe mir auch beim ersten Mal das Gehirn darüber zermartert, welcher Gott neben Zeus, Poseidon, Hera und dem Sohn des Meeresgottes, Polyphem, in der olympischen Kneipe herumsitzt – keine Frage mehr: es ist Apollo, der es liebt, mit seinen Pfeilen auf die Dartscheibe zu zielen – und immer noch witzig ist es, wie einer dieser Pfeile durchs Fenster nach unten fällt, um von den Menschen als göttliches Zeichen fehlinterpretiert zu werden.
Auch so kann man Mythen kritisieren: mit Augenzwinkern.
Apropos Poseidon: Habe ich schon geschrieben, dass der Sänger des Nettuno, Alexey Birkus, über einen 1a-Bass verfügt? Dafür habe ich mich getäuscht, als ich (falsch) bemerkte, dass die schöne und kluge Athene gerne Bücher liest. Da war der Wunsch Vater des Gedankens. Zwar firmiert sie im Mythos als Göttin der Weisheit, doch blättert sie lieber in Zeitschriften. Ich tippe inzwischen auf „Gala“ und ähnliche Yellow Mags. Schließlich wirft sie sich ja auch nur in ihren „klassischen“ blütenweißen Look, wenn sie den Sterblichen erscheinen muss. Ansonsten liebt sie bunte, um nicht zu sagen: hippe, eher körperenge Klamotten. Michaela Maria Mayer sieht in beiden gut aus – und singen tut sie… bei Gott! Und hat sie nicht recht, wenn sie gelangweilt abwinkt, weil der alte Langeweiler Nettuno zum wiederholten Mal auf die pflichtvergessenen Menschen schimpft?
Nein, hier musste niemand mehr schimpfen über irgendein „Regietheater“ oder defizitäre Sängerleistungen. Oder anders: Wenn „Regietheater“ so aussieht, dann wird es höchste Zeit, diesen Begriff aus dem Vokabular zu streichen. Der Beifall war groß, und dies auch, weil an diesem letzten Abend einige Sänger am Ende der Dekade Peter Theilers aus dem Ensemble verabschiedet wurden: nicht nur die wunderbare Michaela Maria Mayer, auch der auch an diesem Abend hervorragende Ilker Arcayürek. Viel Glück! Und kehrt, wenn auch nur gastweise, wieder nach Nürnberg zurück.
Frank Piontek, 20.7.2018