Nürnberg: „L’Orfeo“

Premiere: 2.20. 2020, besuchte Vorstellung: 10.10. 2020

Man könnte sagen, dass die erste Premiere der Spielzeit 2020/21 ebenso wichtig ist wie die der ersten Spielzeit, die der regieführende Intendant Jens-Daniel Herzog zu verantworten hatte. Denn Monteverdis „L’Orfeo“ ist eine genauso hinreißende und – mit gänzlich anderen Mitteln – spektakuläre Produktion wie Prokofjews „Krieg und Frieden“.

Orpheus und Euridyke und der vergebliche Versuch, den Tod zu besiegen. Mitten in der Corona-Krise fasste Herzog den Plan, sich des ersten „richtigen“ Musikdramas der Musiktheatergeschichte anzunehmen. Am 2. Oktober fand übrigens nicht nur die Premiere dieses „Orfeo“ in Nürnberg, auch die Uraufführung einer Neufassung von Shakespeares (also Edward de Veres, 17. Earl of Oxford) „Maß für Maß“ im Hamburger Thalia-Theater statt – an beiden Abenden hatten wir es mit Virus-Interpretationen dieser beiden, übrigens fast gleichzeitig geschriebenen Hauptwerke der Autoren zu tun. Hier wie dort geht es um den Tod, hier wie dort – in den jeweiligen Interpretationen der Schauspiel- und Opernhäuser – geht es um eine „schwedische Seuche“ (der Fall „Maß für Maß“) bzw. um eine plötzlich eintretende, tödliche Atemwegserkrankung: dass die Todesbotin (eindringlich gestaltet von Almerija Delic) laut Übertitel davon singt, dass man versucht habe, die Sterbende mit „Luft“ statt mit den vom Librettisten Alessandro Striggio d.J. ausgewiesenen „Gesängen“ zu heilen, ist keine Übersetzungsmanipulation, sondern eine Reaktion der Opernszene auf die aktuelle Kulturkrise: wo Gesänge nur noch bedingt möglich sind, fehlt nicht nur den Sängern die Luft zum Atmen. Immerhin aber darf das Nürnberger Ensemble vor knapp einem Drittel der möglichen Zuschauer singen.

Der glückliche Zuhörer und -schauer muss sich schon deshalb nicht beklagen, weil Jens-Daniel Herzog zusammen mit dem Bühnenbildner Mathis Neidhardt, dem Videographen Stefan Bischoff, dem Choreografen Ramses Sigl und der Dirigentin Joana Mallwitz und „ihrer“ Staatsphilharmonie Nürnberg, nicht zuletzt mit dem Lichtgestalter Kai Luczak ein Gesamtkunstwerk geschaffen haben, das vom ersten bis zum letzten Augenblick packt. Der Sound, notiert in einer Bearbeitung von Frank Löhr und Joana Mallwitz, realisiert Monteverdis sparsame Anweisungen, indem es den Ton der Zeit zwischen 1600 und der Gegenwart mit bewussten Brüchen realisiert, denen doch nichts Brüchiges anhaftet. Wo sich der Bigbandswing eines fröhlich in die Oberwelt wandernden Orfeo mit der sonoren Nostalgie der Monteverdizeit verschwistert und romantische Violinexaltationen auf den trockenen Ton des im Partiturdruck genannten Intrumentalensembles des Gonzagahofs treffen, wird der Abend zum Hörerlebnis – und wo das so einfache wie sinnfällige Streichermotiv, das nach der Toccata, dem musikalischen Wappen der Gonzaga, ertönt, am Ende, an dem alles alles aus zu sein scheint, mit den mozartnahen Trübnissen eines modernen Holzbläsersatzes erklingt, ist das Glück des Montevedi- und Opernfreundes vollkommen.

Es ist schon deshalb vollkommen, weil mit der ersten, richtungsweisenden Produktion der neuen Spielzeit eine starke Ensembleleistung gelang. Zuerst also Martin Platz als lyrisch beseelter und expressiv begabter Orfeo, der durch die Hölle der Verlassenheit und der Erinnerungen an die zerstörten und brennenden Gefilde dieser Erde läuft, in denen Orfeos Innen und das Aussen der Welt identisch zu sein scheinen. Dann Julia Grüter als zunächst lustige, dann zarte Euridyke, Andromahi Raptis als glitzerblondhaarige Allegorie der Musik (schon dieser Auftritt verzaubert zutiefst) und Echo.

Emilie Newton als expressive Speranza, die hochdramatische Almerija Delic als Messagiera und Proserpina in einem kurzen, aber wichtigen und herzhaften Auftritt, zusammen mit Nicolai Karnolsky als Plutone, der die kurze eheliche Auseinandersetzung in eine lustvolle Begegnung der unteren Zonen münden lässt: eines von vielen eindrücklichen Bildern dieses auf sensitiv und lustvoll optische Effekte setzenden Abends.

Schliesslich Wonyong Kang als Fährmann, Hans Kittelmann als Apollo (ein Riesenmund als Videoprojektion) und vor den Fährnissen und bösen Überraschungen des Lebens warnender Hirt. Dazugezählt die Damen und Herren des Opernstudios, und alle zusammen bilden das Generalensemble der Hirten und gelegentlich der Geister, die eine dunkle Unterwelt mit ihren dunklen Einwürfen begleiten. Nebenbei: wenn sie Monteverdi a capella summen, braucht es keine Instrumente mehr, um dem Musiktheater zu seinem Recht zu verhelfen.

Herzog hat also, dem Stücktext nichts abschneidend, die bekannte Geschichte als Parabel auf ein vergnügliches, im Hier und Jetzt konzentriertes Leben interpretiert, dem der Tod ein schnelles Ende zu bereiten vermag.

Hier aber wird nicht die Partystimmung der Feiernden denunziert, sondern mit den Überlebenden getrauert. Um diese Botschaft in diesen Bildern und dieser spezifischen, ergreifenden Tonschicht zu transportieren, hätte es der Corona-Krise übrigens kaum bedurft. Wenn Orfeo sein Liebesglück in die Welt singt und die Messagiera ihre Botschaft verkündet, wenn sich Pluto durch die Bitte seiner Frau zu einem Gnadenakt mit eingebauter Unmöglichkeitsbedingung erweichen lässt und Euridike in einer monumentalen Videoprojektion hinter dem noch zuversichtlichen Geliebten nach oben wandert (eines der stärksten Bilder des Abends), bevor das Gesicht der abschiednehmenden Geliebten nach und nach sich auflöst, begreifen wir auch so, dass das Leben und das, was wir für Liebe halten, kostbar ist – in jedem gelebten Augenblick: und gerade in der Oper, die alles andere als alt ist.

Am Ende reicht es immerhin zu einem Denkmal, denn Orfeo telefoniert bekanntlich mit seinem „Padre cortese“, seinem gütigen Vater Apoll, der ihm die Früchte der Tugend anpreist. Dass sich Orfeo auf dem Sockel nicht wohlfühlt, weil, wie Brecht gesagt hätte, „etwas fehlt“, versteht sich von selbst. Die Projektion der Denkmäler der Größten, unter ihnen die vergöttlichten Heroen der Musik (nur Wagner fehlt in dieser Inszenierung des Opernhauses am Nürnberger Richard-Wagner-Platz), verschwindet. Was zuletzt bleibt, ist die Traurigkeit des Zurückbleibenden – und heftiger Applaus.

Fotos: ©Ludwig Olah

Frank Piontek, 11.10. 2020