Wenn ein Choreograph mit einem ausgeprägten eigenen Stil, der sich bei jeder seiner Produktionen ein wenig neu zu erfinden scheint, zum ersten Mal eine Oper inszeniert – dann bekommt der Zuschauer, wenn alles gut geht, eine Inszenierung serviert, die ein wenig anders ist als „gewöhnlich“, auch wenn wir wissen, dass es hierzulande so etwas wie „gewöhnliche“ Inszenierungen seit Jahrzehnten nicht mehr gibt, oder anders: Das „Ungewöhnliche“ ist inzwischen zur Norm geworden, aber das nur nebenbei. Wenn es sich bei der Oper um ein unendlich oft inszeniertes Werk handelt, dessen Handlung jeder Opernfreund nacherzählen und dessen Text jeder mitsingen kann, erwartet man geradezu, dass der Choreograph etwas „Anderes“ auf die Bühne stellt.
Der Choreograph heißt Goyo Montero, in Nürnberg leitet er seit 16 Jahren die Ballett-Compagnie des Staatstheaters, 2024 erhielt er für seine Arbeit den Bayerischen Verdienstorden, seine Kreationen sind innovativ, aufregend und beim Publikum äußerst beliebt. Nun hat er zu einer der Opern aller Opern gegriffen: der Zauberflöte – mit dem ausdrücklichen Respekt und einer Liebe zum Werk, die der gewöhnliche Opern-Aficionado in der Regel seit Kindesbeinen für dieses sehr besondere Stück besitzt. Montero nähert sich der tausendfach interpretierten, geliebten, als „Machwerk“ kritisierten, ironisierten und zum nationalen Heiligtum erklärten „Großen Oper in zwei Aufzügen“ – wie könnte es anders sein? – nicht mit den Werkzeugen eines Opernregisseurs, sondern eines Choreographen, dessen Arbeiten sich durch düstere, manchmal auch vorsichtig optimistische Innenansichten des Menschen auszuzeichnen pflegen. Im Vergleich zu manch nachtschwarzer Montero-Choreografie ist die von ihm gebrachte Zauberflöte geradezu hell zu nennen, auch wenn die schwarzen Plastikplanen, die nicht nur den Bühnenhintergrund, sondern auch die Orchesterlogen verkleiden, typisch monterohaft glänzen und in wechselnder Beleuchtung reizvolle Farbspielereien ermöglichen. Die Zauberflöte ist und war den Regisseuren und wissenschaftlichen Deutern alles mögliche: Mythos und Märchen, Aufklärungsstück und Figurentheater, Ritual und Kindervergnügen, Schau-Spiel und philosophischer Essay, Krimi und Kasperletheater, Freimaurertum und Volkstheater – und zwar gleichzeitig, nicht sich einander ausschließend. Montero reagiert auf diese Deutungsschichten und Angebote, indem er das Werk textmäßig entschlackt (die Dialoge wurden stark gekürzt) und Tamino zur prinzipiell einzigen Hauptfigur des Stücks erklärt. Die Inszenierung beginnt also – das ist noch nicht originell, aber nachvollziehbar – während der Ouvertüre mit der Einführung Taminos. Der Mann ist in ein Koma gefallen, sein Inneres löst sich, wie in einer Nahtoderfahrung, mit filmischem Einsatz von seinem Körper, er wird hin- und hergezerrt und in den nächsten zwei Spielstunden ein fantastisches Leben durchmachen, in dem etliche Figuren, auf die er in seiner nächtlichen Reise trifft, Abspaltungen seiner selbst repräsentieren. Und so, wie in den „normalen“ Zauberflöte-Inszenierungen der Weg des Prinzen (und der Prinzessin Pamina!) eine Initiation in ein höheres Selbst markiert, geht Monteros Tamino durch einen Raum und eine Zeit, in der buchstäblich viel in Bewegung und wenig sicher ist. Pamina ist also nichts Anderes als seine weibliche Seite (Montero: „In den Proben habe ich die beiden Pamino und Tamino genannt“), während die anderen Gestalten vielleicht als Teile seines Bewusstseins, wohl auch als Erinnerungen an seine Wirklichkeit deutbar sind: Sarastro als väterliches, die Königin der Nacht als mütterliches Prinzip. Montero weiß um die Widersprüche, zumal dieser Figuren, die in kein Gut-Böse-Schema einzuordnen sind; wenn Sarastro der Pamina die Freuden des Vergebens predigt, steht sie, als Marionette seines Herrscherwillens, wie unter Drogen, und wenn die Königin sich buchstäblich aufbläst und plötzlich giftig-rote Spitzen aus ihrem Rücken ragen, begreifen wir, dass der Hass auf den Widersacher auch etwas mit einer nachvollziehbaren Verteidigungshaltung zu tun haben könnte. Montero stellt – dafür sorgen die Kostüme von Salvador Mateu Andújar – künstliche und fantastische Figuren auf die Bühne, wie sie das Zaubertheater liebt. Plastik ist, man mag das mögen oder nicht, eines der wichtigsten Elemente der Ausstattung; schon die drei Damen treten in einem Plastik-Outfit auf, um das sie manch Couturier beneiden könnte. Monostatos, der das Prinzip der sexuellen Enthemmung vertritt, trägt einen riesigen Plastik-Phallus umher, die Kopfbedeckungen Sarastros und der beiden Priester erinnern nicht zufällig an Bischofsmützen, und Papagenos wie Papagenas Kopf wird durch einen Hahnenkamm gekrönt, der ihn zu einem mythisch-animalischen Punk macht. Ansonsten sieht man eine Mixtur aus Gruselclown und Geisterbahnskelett: das Vergängliche ist dem Kerl, der irdische Vergnügen schätzt, buchstäblich auf den Leib geschrieben. Papageno ist für den Regisseur ein „kleiner Teufel“ und ein „Master of Ceremony“. Letzteres ist er nur bedingt, ersteres auf jeden Fall, denn er fängt für die Königin jene „Seelen“ ein, die durch den gesamten Abend wuseln. Es ist dies eine jener Textänderungen, über deren Berechtigung man stundenlang reden könnte. Montero machte aus den harmlosen „Vögeln“ gefährdete „Seelen“, was dem choreographischen Spiel freilich glänzende Entfaltungsmöglichkeiten gibt. Alisa Uzunoya, Jay Ariës und Andy Fernández begleiten also viele Szenen, kommentieren sie auf ihre Weise und begleiten die Figuren durch das Jenseitsreich der Selbsterkundung. Ein Höhepunkt: der wie so oft bei Montero vor allem am Boden stattfindende Pas de deux während des Priestermarschs, mit dem der 2. Akt erotisch beginnt. Ansonsten schieben die Tänzer zusammen mit den diskret agierenden und tiefschwarz maskierten Bühnenarbeitern die beiden von Leticia Gañan und Curt Allen Wilmer verantworteten Treppentürme über die Bühne.
Sie tun es erstaunlich oft. Montero mag keinen Leerlauf, bei ihm muss alles Bewegung sein. Selbst die ruhige, wenn auch von einem inneren Dräuen bewegte, herrlichen Priester-Szene, in der Tamino Wesentliches, vielleicht auch bedeutend (!) Falsches erfährt, wird mit nicht wenigen Positionsänderungen der beiden Treppen gestaltet – weniger ist oft mehr, aber wo Montero drauf steht, ist auch Montero drin. Auch die Sänger und Sängerinnen, vor allem Tamino und Pamino, müssen sich, es ist wunderbar anzusehen, weil sie’s einfach gut machen, ins tänzerische Spiel begeben und charakteristische Montero-Gesten und Motive ausführen. Zusammen mit den „Seelen“ ist das reizvoll anzuschauen, unterstreicht auch den traumatisch-traumhaften Charakter dieser Interpretation, was genaue Details nicht ausschließt: Wenn Sarastro schon bei seinem ersten Auftritt sein frauenverachtendes, für das späte 18. Jahrhundert allerdings völlig gängiges Salbadern beginnt, verlässt Pamina empört die Bühne – bevor sie beim Erscheinen des „Jünglings“ sogleich wieder zurückkommt.
Eine zweite Textänderung ist politisch korrekt bedingt: aus dem „Mohren“ machte man einen „Mann“, bei Montero erinnert Monostatos keinen Moment mehr an jene Figur, die im späten 18. Jahrhundert im Zwiespalt zwischen Aufklärung und Ressentiment stand, zu Deutsch: die soziale Position schwarzer Menschen wurde in europäisch geprägten Kulturen, so auch in der ausgesprochen dialektisch argumentierenden Zauberflöte, noch ausgehandelt. Es ist in Ordnung, weil Monteros Interpretation der Handlung als Theater einer inneren Vision keine Diskussion über andere Hautfarben benötigt. Es genügt, die sexuelle Energie des Mannes herauszustellen, der im Gegensatz zum Reich des Sarastro zu stehen scheint, obwohl er dort unter eher obskuren Umständen in Lohn und Brot steht. Hätte der Regisseur sich für eine postkoloniale Deutung des Stücks interessiert, sähe die Sache natürlich anders aus – aber Monteros Zauberflöte ist, wie er weiß, nur eine der vielen Möglichkeiten, den Reichtum und die Themen des Stücks darzustellen. Werden auch die drei Knaben umgedeutet, wenn sie von den drei Damen durch das Stück geführt werden und wie kleine Skelette, also wie Repräsentanten des Todes aussehen? Nein, denn die Rolle der Knaben ist so undurchsichtig, dass eigene und immer wieder neue Mutmaßungen über die Herkunft und gesellschaftliche Zugehörigkeit der drei Genien nicht nur erlaubt, sondern sogar nötig sind (mag auch Jan Assmann in seinem faszinierend einseitigen Buch über die Zauberflöte als „Oper und Mysterium“ die Knaben zu Mitgliedern des „höheren, beide Sphären umfassenden Ebene des Rituals“ erklären). Allein an solchen ausdrücklichen Bildfindungen merkt man, wie sehr Die Zauberflöte als phantasmagorisch-fantastisches Spektakel inszeniert werden kann, demgegenüber „realistische“ Deutungen nicht allein die Hülle, sondern auch den Kern des Werks verfehlen. Papageno als gar nicht kindliche Gruselfigur (wobei ich nicht sicher bin, ob nicht gerade Kinder diese Darstellung mögen würden), die Königin als blauer, wildhaariger, archaischer, Menschenpüppchen um den Hals tragenden Wesen aus einem imaginären Urwald, sie und Papageno und die Damen mit ihren klauenhaften Fingern: all das trägt zum Schauwert der Inszenierung bei. Nur Tamino und Pamina treten bis zuletzt in ihrem Krankenhaus-Look auf. Das ist nicht schön, trägt aber zur Erforschung einer möglichen Interpretation der Oper bei, in der es h um den Weg zum inneren Selbst, damit zu einer persönlichen Wahrheit geht. Der Durchgang durch visionäre, auch todesnahe Erlebnisse, die gelegentlich zu einer Klärung eigener Befindlichkeiten führen, ist realistisch – und fantastische Figuren, gleich welcher Art, waren von je her Wege, das eigene Selbst gleichsam auszulagern, um zur Erkenntnis über ein Ich zu gelangen. Fragen Sie die Märchenforscher. In diesem Sinn hat Montero, auf gar nicht so sehr verfremdende Art, die Geschichte der Zauberflöte ohne Abstriche erzählt. Nur, dass das „Werk“ – und gerade eines, das so vielen Deutungen ausgesetzt war und ist –, wie immer allein aus der persönlichen Ansicht des Regisseurs (und der Zuschauer) zu bestehen vermag. Denn die Wahrheit über die Zauberflöte gibt es vermutlich nicht.
Die Hauptsache sind eh die Sänger bzw. ihre Kunst. Sergei Nikolaev ist ein ansprechender Tamino, der mit dem Schmelz seines Tenors zugleich den Ausdruck einer empfindsamen Seele ins Spiel bringt. Sehr klar, sehr deutlich, sehr bestimmt, also eine ernsthafte Figur, deren bedeutungsvoller Liebeseinsatz vor der Feuer- und Wasser-Probe wie das Kopf-an-Kopf-Zusammensein mit ihrem anderen Ich in der ersten Probe schon deshalb tief rührt: die Pamina der Veronika Loy. Taras Konoshchenko ist ein profunder, wenn auch nicht nachtschwarzer Bass, der dem Sarastro dramatisches Profil gibt, und Demian Matusheskyi singt den Papageno mit einem Charakterbariton, der zur Gestaltung der Figur trefflich passt. Die Königin der Nacht wurde mit Andromahi Raptis relativ leichtgewichtig besetzt, auch wenn sie bei den gefürchteten Spitzentönen ihrer beiden Arien die Stellung hält; die Figurencharakterisierung als zürnend-wilde Mutter gelingt ihr gut. Glänzend die drei Damen: Caroline Ottocan, Linsey Coppens und Almerija Delic klingen sowohl einzeln als auch im Unisono perfekt (und es macht wieder große Freude, Delics dramatischem Alt zu lauschen). Der erste Priester wurde mit Wonyong Kang ausreichend besetzt (die Bewegungen der Treppentürme verhindern hier, wie gesagt, die Konzentration auf das akustisch Wesentliche), und Florian Wugk singt einen ordentlichen Monostatos. Die Wurzen der Papagena (zugegeben: die Rolle muss von einer wirklich guten Sängerin gemacht werden) liegt bei Clarissa Maria Undritz, wie Wugk ein Mitglied des Internationalen Opernstudios Nürnberg, in guter Kehle. Schließlich dürfen sich wieder drei Solisten des Tölzer Knabenchors präsentieren: ganz ausgezeichnet auch sie.
Eine Nürnberger Zauberflöte wäre nichts ohne den erstrangigen Chor des Staatstheaters; hier hat er sogar ein wenig mehr zu tun, wenn er zusammen mit den Solisten die Moral-Sätze anstimmt. Kleinere Eingriffe in die Partitur, oder besser: Erweiterungen gibt es auch sonst, die Donnerschläge beim Auftritt der Königin und in den unterirdischen Gewölben werden von „schrecklichen“, aber klanglich echt zauberflötenhaften Forte-Akkorden akzentuiert. Wenn Jörg Krämer die Zauberflöte spielt, hören wir bei ihrem ersten Erklingen einige Verzierungen, die dem Part das immer schon Gehörte nehmen, ohne dass es sich um eine grenzüberschreitenden Neuinterpretation handeln würde. Also schön.
Klingt auch die Staatsphilharmonie Nürnberg neu und gleichzeitig „gewohnt“? Durchaus, wenn man an die zügigen Aufführungen der letzten Jahrzehnte denkt. Das Dirigat von GMD Roland Böer passt schon deshalb, weil es mit dem gelegentlich arg schnellen Tempo der Bühnen-Bewegungen harmoniert. Man spielt einen farblich abgestuften (die Holzbläser, die tieferen Streicher!) „späten“ Mozart heraus, ist hurtig wie ein Volks- und schlank elegant wie ein klassizistisches Lehrstück. Der Beifall ist jedenfalls groß. Vielleicht also spielt die Frage, inwiefern Montero mit seiner Sicht auf das vielleicht deutungsfähigste Stück des deutschsprachigen Musiktheaters das „Richtige“ oder eher das „Abseitige“ getroffen hat, angesichts der musikalischen Zustimmung des Publikums keine so große Rolle mehr. Wenn Tamino am Ende, wir sehen’s in der Projektion, vor dem finalen Schlusstanz aller friedlich Vereinten, also auch der Königin und ihrer Begleiter, Pamina umarmt, wieder eins wird und in einem Lichtrausch entschwindet, muss man wohl von einer „Erlösung“ sprechen, auch wenn die Frage offenbleibt, wie sie genau aussieht. Tod? Erkenntnis? Oder Erkenntnis im Tod?
Die Zauberflöte bleibt ein wunderschönes Mysterium, auch nach dieser Inszenierung.
PS: „Es ist vielleicht nicht die normale, erwartbare Zauberflöte, aber Theater ist auch nicht interessant, wenn man nur kriegt, was man erwartet.“ Goyo Montero, September 2024.
Pps: Was und wie man hört, hängt im Nürnberger Staatstheater entscheidend vom Sitzplatz ab. In der Mitte der zweiten Reihe (wo der Rezensent saß) klingen die Sänger wesentlich deutlicher als, beispielsweise, in der 16. Reihe. Insofern ist schon das bloße Hören einer Oper ein Glücksfall, in Nürnberg auf jeden Fall eine Sache der lokalen Position.
Frank Piontek, 11. Oktober 2024
Die Zauberflöte
Mozart, Schikaneder
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 5. Oktober 2024
Besuchte Aufführung: 9. Oktober 2024
Inszenierung: Goyo Montero
Musikalische Leitung: Roland Böer
Staatsphilharmonie Nürnberg