Nürnberg: „Les Noces / Stop Motion“, Igor Strawinsky & Jean-Christophe Maillot / Sol León & Paul Lightfoot

© Bettina Stöß

„Always the question for dancers ist: Can we fly?“

Die Frage mag berechtigt sein: ob die Tänzer fliegen können. Schaut man sich die beiden Produktionen an, die im Nürnberger Staatsballett zu einem Programm vereinigt worden sind, kommt es einem tatsächlich gelegentlich in den Sinn, dass Tanzen mitunter die Aufhebung der Schwerkraft bedeutet, ja: es hat immer wieder Tänzer in der Tanzgeschichte gegeben, die man auch deshalb bewundert hat, weil sie möglichst lange oben blieben (was nichts mit der bekannten Kürze einer Tänzerkarriere zu tun hat, die im Programmheft erwähnt wird). Es ist besonders, aber nicht allein die zweite Choreographie, die dem Zuschauer das Gefühl gibt, es mit einer außerordentlichen Flugkraft zu tun zu haben. Dabei sind die Geschichten und Gefühle, die hinter dieser Produktion stehen, alles andere als leichtgewichtig. Das Choreographen-Paar Sol León und Paul Lightfoot hat „Stop-Motion“ 2014 für das Nederlands Dans Theater kreiert, als heftige Diskussionen über den Erhalt des Theatergebäudes liefen, in dem die Truppen ihre Erfolge gefeiert haben. 2015 bis 2016 wurde das Gebäude abgerissen; der Staub, den die Tänzer im zweiten Teil von „Stop-Motion“ aufwirbeln, scheint auch dem Bauschutt zu entstammen, der nach der Premiere des Stücks entstanden ist.

© Bettina Stöß

Zwei sicht- und hörbar verschiedene Werke zu kombinieren, indem man sie aneinanderreiht, kann das funktionieren? Es funktioniert, weil Compagnie Direktor Goyo Montero zwei Arbeiten nach Nürnberg geholt hat, die zwei denkbar unterschiedliche Möglichkeiten des modernen Tanztheaters zeigen, sich also ergänzen – wobei das hier wie dort erregend hohe Niveau der Tänzer und Tänzerinnen das ihre dazutut, um den gesamten Abend zu einem so gelungenen wie kurzweiligen zu machen. Igor Strawinskys „Les Noces“, 1923 erstmals von Bronislawa Nijinska choreographiert, erzählte damals keine Geschichte, sondern stellten die Rituale einer russischen Bauernhochzeit aus, womit der Komponist und seine Choreographen die heidnisch-rurale Welt eines „alten Russland“ erforschten. Sie erzählten keine mit individuellen Charakteren bevölkerten Dramen auf die Bühne, sondern nahmen sich das Material der heimatlichen Volkslyrik und Bräuche vor, um in stark abstrahierter Form raumgreifende Formationen zu entwickeln. Dies ist schon das Einzige, was Nijinskas Bewegungskanon mit der Interpretation verbindet, die Jean-Christophe Maillot 2003 mit dem Ballets de Monte Carlo entwickelte. Tendiert also die Arbeit des Franzosen mit der Vorlage zu einer Konkretisierung des Geschehens, so abstrahierten León und Lightfoot die persönlich erfahrenen Ereignisse, um in hochästhetischen Bewegungsabläufen und Konstellationen die Geschichten und Emotionen, die all dem zugrunde liegen, verschwinden zu machen – was paradoxerweise (das sind so die Eigenheiten des modernen Balletts) nicht auf den Verlust allen Sinns hinausläuft. Im Gegenteil: Je offener die Bewegungen, Gesten und Situationen sind, die uns im Lauf von knapp 40 Minuten kredenzt werden, desto mehr entwickelt sich das im Zuschauer, was der Traum allen guten Theaters ist: die Fantasie. Wesentlich unterstützt wird Leóns und Lightfoots Idee eines freien wie bedeutenden Tanzes vom Klang und vom Licht. Die Begleitmusik lieferte Max Richters, dessen zwischen einem balsamischen Wohlfühlsound und neubarocken Rhythmuspatterns changierender Score die ideale Grundlage für das sensitive Tanztheater des Choreographen-Paars ist. Der zarte Ansatz einer nacherzählbaren Story findet sich einerseits im betörend schönen, von Rahi Rezvani hergestellten Schwarzweiß-Slow-Motion-Video der jungen Tochter des Choreographenpaars im schwarzen Kleid, andererseits in der Figur einer jungen Frau, die zunächst wie konvulsivisch mit einem Pärchen in Kontakt tritt, bevor es mit einer ellenlangen Schleppe von der Bühne eilt; am Ende des Stücks werden Mann und Frau einem Nachtvogel hinterherschauen, der mit den letzten Takten des Werks von der Projektionsfläche abschwebt. Der Rest ist Anmut, heftige Begegnung, Symmetrie und Asymmetrie, pure Energie, Leichtigkeit und Erdverbundenheit, mit einem Wort: die ganze Welt des Tanztheaters. Man könnte die Bilder auch als getanzten und videomäßig abgebildeten Diskurs über die Pubertät, die lange Zeit regierende Einschnürung der Frau oder die Emanzipation der Geschlechter deuten, aber so, wie sich „Les Noces“ der – auch bei Nijinska noch vorhandenen Folklore – verweigert, ist es unmöglich, auf der Grundlage von „Stop-Motion“ einen Essay über den Kampf von Mann und Frau auszubuchstabieren. Ansonsten müsste man und frau ja auch nicht tanzen.

© Bettina Stöß

Auch „Les Noces“ besteht aus den Elementen, die im zweiten Teil begegnen, auch wenn die Arbeit auf den ersten Blick ganz anders daherkommt. Stampften vor 100 Jahren bei Bronislawa Nijinska ihre Kunstbauern noch, passend zur harten, perkussiven Musik Igor Strawinskys, über die Pariser Bühne, über die sie in großen, nach den Geschlechtern getrennten Blöcken liefen und sprangen, so finden sich zwar auch bei Maillot noch die Jungen und Mädchen der einst als Freunde des Brautpaars und Dorfbewohner definierten Figuren. Nur bewegen sich Braut und Bräutigam, Jungs und Mädchen in der neuen Deutung wesentlich raumgreifender, schneller und graziler, um nicht zu sagen: zärtlicher aufeinander zu. Es wurde dem Ballett, sozusagen, jener Zopf abgeschnitten, um den es im ersten Teil von „Les Noces“ noch geht. Wo die Choreographin in Clustern dachte, vermischen sich die Gruppen, und wo die Zwangsheirat Norm war, wenden sich die junge Frau und der junge Mann (durchs weiße Kostüm herausgehoben aus der Masse) nun relativ schnell zueinander, bevor am Ende alle jungen Leute in ihrem Weiß erscheinen. Bei Nijinska verharrten die Brauteltern und die beiden Brautleute im letzten Teil relativ lange distanziert auf einem Podest im Hintergrund; bei Maillot bildet die Compagnie einen fröhlichen Trubel, der in der erotischen Begegnung des Brautpaars gipfelt: sie von ihm an einer der Schiebewände in die Höhe geschoben, schließlich beide sich im Zimmer vereinigend. Seltsamerweise passt Strawinskys primitiv beginnende, dann immer weiter sich ausdifferenzierende Musik, deren Glockenklang-Urzelle aus einem Quartschritt besteht, auch zu dieser vermenschlichten Interpretation der „Noces“. Man hat Pierre Boulez’ enorm vitale Aufnahme aus den Jahre 1965 ausgewählt, um eine mitreißende, durchaus nicht abstrakte Geschichte zu erzählen. Auch hier spielt das prägnante Licht eine Rolle; im Gegensatz zum Arbeitslicht, das in den meisten Nürnberger Opernproduktionen gesehen werden muss, zeichnet sich die Lichtarbeit der Nürnberger Ballettabende durch einen Reichtum aus, wie er auch an diesem Abend herrscht. Dominique Drillot ist beim Strawinsky/Maillot-Teil, Tom Bevoort beim León- und Lightfoot-Teil dafür verantwortlich. Hier das reizvolle Dunkel offensichtlich-geheimnisvoller Beziehungsgeschichten, dort die Wärme kollektiv-individueller Liebesbegegnungen.

© Bettina Stöß

Was am Ende am meisten bejubelt wird, sind die Solisten der einzelnen Teile. Glänzend und bewegend: Lisa van Cauwenbergh und Luca Branca als das Paar in „Les Noces“, Òscar Alonso, Jay Ariës, Mackenzie Meldrum, Edward Nunes, Juliano Toscano, Lucas Axel, Alisa Uzunova (als Schwarzer Schwan der Jugend) und Lisa van Cauwenbergh als Gleiche unter Gleichen in „Stop-Motion“. Natürlich können auch diese Tänzerinnen und Tänzer nicht fliegen, aber man hat doch sekundenlang den Eindruck, dass sie es vielleicht könnten: sogar mit all den Problemen, die ihre Körper und die Erfahrungen der Choreographen und ihrer selbst ihnen täglich mitgeben. Im Grunde also erzählen beide Arbeiten allein von Einem: von Menschen.

Riesenapplaus für zwei spannende Stücke und eine grandiose Compagnie.

Frank Piontek, 28. Juni 2024


Les Noces / Stop-Motion
Musik von Igor Strawinsky und Max Richter
Staatstheater Nürnberg

Premiere am 4. Mai 2024
Besuchte Aufführung: 27. Juni 2024

Choreographie: Jean-Christophe Maillot / Sol León & Paul Lightfoot