Wiesbaden: „Idomeneo“ / „La clemenza di Tito“

(Premieren am 30. April und 1. Mai 2019)

Überzeugender Abschluß des Mozart-Zyklus‘ im Rahmen der Maifestspiele

Die Wiesbadener Maifestspiele sind zu Ende gegangen, und das Staatstheater Wiesbaden vermeldet eine Auslastung von 85 Prozent. Wie üblich hatte man ausverkaufte Vorstellungen bei Repertoire-Aufführungen von Wagner und Verdi, die man mit namhaften Gastsängern zu glanzvollen Galas aufgehübscht hatte. Daß man insbesondere bei den Meistersingern von Nürnberg mit Michael Volle, Johannes Martin Kränzle, Günther Groissböck und Daniel Behle nahezu die gesamte aktuelle Bayreuther Besetzung präsentieren konnte, war durchaus bemerkenswert.

Zu wenig Beachtung fand allerdings, daß die Festspiele durchaus ungewöhnlich und mutig begonnen hatten. Intendant Laufenberg hatte den Einfall, den vom Alte-Musik-Spezialisten Konrad Junghänel musikalisch betreuten Mozart-Zyklus mit einer Doppel-Inszenierung an aufeinander folgenden Abenden abzuschließen. Der frühe Idomeneo sollte neben dem späten Tito präsentiert werden. Beides sind selten gespielte Werke mit eher sperriger Dramaturgie, welche Regisseure vor besondere Herausforderungen stellen. Die Aufgabe nun war umso schwieriger, als es der ausdrückliche Anspruch des Produktionsteams war, beide Werke an aufeinander folgenden Tagen als zusammengehörendes Doppel zu präsentieren. Dieses Versprechen eines zwingenden Zusammenhangs wurde am Ende nicht vollständig eingelöst. Zu erleben waren aber zwei durchaus gediegene Regiearbeiten, die jeweils für sich stehen können und eher dezente Querbezüge über Bühnenelemente und Einspielfilme aufweisen.

Mirko Roschkowski (Tito) und Chor

Mozarts La Clemenza di Tito gehörte zu den großen Erfolgen der im Zorn beendeten Ära Laufenberg an der Oper Köln. Der inszenierende Intendant hatte seinerzeit das gewaltige Treppenhaus des Oberlandesgerichtes Köln schnörkellos mit sehr überzeugender Personenregie bespielen lassen und die besondere Aura des ungewöhnlichen Spielorts glücklich zur Entfaltung gebracht. Für seine erneute Beschäftigung mit Mozarts Spätwerk hat Laufenberg sich nun von seinem Bühnenbildner Rolf Glittenberg einen kühlen, in Marmoroptik ausgekleideten modernen Repräsentationsbau entwerfen lassen, in dessen Mittelpunkt wiederum ein gewaltiger Treppenaufgang steht. Der Regisseur kann so die Vorzüge der älteren Produktion runderneuert präsentieren, ohne die Nachteile des akustisch ungünstigen Oberlandesgerichts in Kauf nehmen zu müssen. So wie Mozarts Tito ein Werk der Reife ist, erweist sich auch Laufenbergs Inszenierung als gereifte Version einer überzeugenden Grundidee. Es ist intensives, plastisches Theater zu erleben, das sich auf ausgezeichnete Darsteller verlassen kann. Daß die Kostüme von Monika Glittenberg schlichte Businesskleidung zeigen, ist weniger ein Versuch von Aktualisierung als vielmehr ein Ausweis von Zeitlosigkeit.

Die titelgebende Milde des römischen Kaisers, der selbst denen, die ihm nach dem Leben trachten, vergibt und die Drahtzieherin eines gegen ihn gerichteten Attentats schließlich sogar zur Frau nimmt, hält Laufenberg für eine kaum erträgliche Zumutung. Diese übermenschliche, letztlich unmenschliche Milde zeigt er als Herrschaftsinstrument, welches den Herrscher innerlich zerreißt und seine Gegner als Empfänger unverdienter Gnade niederdrückt.

Olesya Golovneva (Vitellia) und Silvia Hauer (Sesto)

Die darstellerisch stark geforderten Sänger können allesamt auch musikalisch überzeugen. In der Titelrolle präsentiert Mirko Roschkowski einen klangschön abgerundeten Tenor mit samtigem Bronzeton und stabiler Höhe. Leider bereiten ihm die Koloraturen hörbare Mühe, sonst könnte man von einem nahezu idealen Mozart-Tenor sprechen. Eine herausragende Leistung ohne Abstriche bietet Silvia Hauer in der Hosenrolle des Sesto. Mit ihrem glutvollen Mezzo durchmißt sie alle Gefühlsschwankungen ihrer zerrissenen Figur. Olesya Golovneva zeichnet als Vitellia mit ihrem gereiften Sopran sehr überzeugend und mit hinreißender Leidenschaft das Bild einer ehrgeizigen und rachsüchtigen Frau. Schönstimmig und rollenadäquat brav geben Shira Patchornik und Lena Haselmann das Paar Servilia und Annio.

Die gute Idee, den musikalisch stark geforderten Soloklarinettisten auch szenisch auftreten zu lassen, hat Laufenberg aus seiner Kölner Inszenierung übernommen. Völlig zurecht präsentiert er so den vorzüglichen Adrian Krämer als den Sängern ebenbürtigen Protagonisten.

Das Orchester beweist seine unter Konrad Junghänel erworbene Kompetenz in Sachen historisch informierte Aufführungspraxis. Die Streicher spielen vibratoarm, artikulieren lebendig und beredt. Mit den schlank geführten Bläsern ergibt sich ein farbiges und jederzeit gut durchhörbares Klangbild.

Diese Qualität des Orchesters war bereits am ersten Abend des Doppels, bei Idomeneo zu erleben. Junghänels zupackender Ansatz ließ die genial-frühreife Partitur mit ihrer Überfülle an originellen Einfällen in bestem Licht erscheinen. Wie am zweiten Abend war die Titelpartie Mirko Roschkowski anvertraut worden. Schon hier war der Eindruck zwiespältig. Die Freude über das schöne Stimmmaterial und die musikalische Durchdringung der Figur wurde ein wenig eingetrübt durch das Bedauern über die nicht völlig souverän bewältigten Koloraturen. Die sängerische Krone des Abends gebührte Slávka Zámečníková als Ilia. Die Sängerin verstand es, mit ihrer zum niederknien schönen Stimme weite Bögen zu spannen und einen innigen Ton zu erzeugen, der immer wieder berührte. Die Kastratenpartie des Idamante war adäquat mit dem Countertenor Kangmin Justin Kim besetzt. Seit wir ihn in dieser Rolle am Stadttheater Gießen vor einigen Jahren zum ersten Mal gehört haben, ist die Stimme gereift, hat an Volumen gewonnen, aber etwas Schärfe in der Höhe entwickelt. Der Sänger präsentierte sich mit großer Emphase, die aber nicht nur einmal dazu führte, daß ihm im Eifer der Gefühle die Intonation nach Oben wegrutschte. Einen tadellosen Eindruck hinterließ Netta Or als leidenschaftliche Elettra.

Slávka Zámečníková (Ilia) und Kangmin Justin Kim (Idamante)

Das Bühnenbild verortete das Geschehen in einer Ruine. An den Oberlichtern des zerstörten Gebäudes konnte man in Kenntnis der nachfolgenden Tito-Inszenierung rückblickend erkennen, daß es sich um Titos Palast handeln mußte. Die Treppe war verschwunden, die Rückwand von einem riesigen Einschußloch durchbrochen. Das legte den Blick frei auf einen Strand mit dahinter liegendem Meer. Der Gott Neptun, der Idomeneo vor seiner Heimkehr aus Troja auf offener See zusetzte und der mit dem Versprechen eines Menschenopfers besänftigt werden mußte, war auf diese Weise als ungebändigte Naturgewalt präsent. Die Urgewalt des Meeres wurde dabei durch eindrucksvolle Videoprojektionen plastisch. Damit hatte sich Regisseur Laufenberg aber entschieden, den Aspekt der Religionskritik außen vor zu lassen, der in manch anderer Inszenierung einen naheliegenden Anknüpfungspunkt bietet. Stattdessen lenkte die Neuproduktion den Blick auf die inhärente Flüchtlingsthematik. Laut Libretto befinden sich auf der Insel Kreta trojanische Kriegsgefangene. Laufenberg und sein Ausstattungsteam deuten hier Bezüge zu aktuellen nahöstlichen Konflikten an, ohne allzu platt zu aktualisieren. Der Sinn des mit archaischen Gesten gezeigten Opferrituals bleibt vor diesem Hintergrund indes dunkel.

Mirko Roschkowski, nun als Idomeneo

In der Pause zum ersten Abend, dem Idomeneo, hatte uns der Intendant noch freudig zugerufen, man müsse sich unbedingt auch am nächsten Tag den Tito ansehen, denn beide Inszenierungen gehörten zusammen. Tatsächlich ist es reizvoll, den Doppelabend als chronologisch gleichsam von hinten erzählte Versuchsanordnungen über die Ausübung von Herrschaft zu betrachten. Dann erlebt man zunächst eine postapokalyptische Gesellschaft, die kriegstraumatisiert in Ruinen hausen muß und in der archaische Rituale als Erinnerungen an Zivilisationsreste hohl, roh und letztlich vergeblich zur Sinnstiftung herangezogen werden. Das Gegenbild einer streng durchorganisierten, technokratisch-aufgeklärten Gesellschaft, wie es im Tito präsentiert wird, erscheint mit seiner unmenschlichen Kühle dagegen auch nicht verlockender. Es ist ein pessimistischer Blick auf die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens, den Laufenberg und sein Ausstattungsteam präsentieren.

Beide Inszenierungen sind trotzdem jeweils in sich geschlossen, so daß das Staatstheater Wiesbaden sie außerhalb der Maifestspiele nun auch je einzeln aufführt. Weitere Vorstellungen des Tito gibt es am 10., 22. und 27. Juni. Der Idomeneo wird noch am 6., 9. und 14. Juni gegeben.

Michael Demel, 2. Juni 2019

© Bilder: Karl und Monika Forster