Bericht von der Premiere am 04. Februar 2018
Statische Bebilderung mit magischem Ende
Am Ende schieben sich Gazevorhänge langsam aus dem Schnürboden vor die Kulisse, so daß die Bühne wie in dichtem Nebel zu versinken scheint. Die Schrift der Übertitel verlischt allmählich, das Orchester legt fahle Farben auf, der Klang wird leiser, dünner, scheint zu ersticken, bis er ganz erstirbt. In diesem Moment verharrt das Orchester und mit ihm das Publikum eine beklommene Ewigkeit lang. Niemand wagt es zu husten, kein unpassendes Klatschen zerstört diesen Moment magischer, unmittelbar erlebter Trostlosigkeit. Dann aber markiert ein Blackout das definitive Ende, und es bricht sich großer, ungeteilter Jubel Bahn. Es ist dieses Ende, welches den Eindruck des gesamten Abends dreht.
Was zuvor zu sehen war, entspricht in etwa dem, was man bei einer Inszenierung von Achim Freyer erwarten konnte. Der Theaterveteran, inzwischen jugendliche 83 Jahre alt, setzt in seinen Produktionen ganz auf die Kraft der ebenfalls von ihm gestalteten Ausstattung. Bühnenbilder und Kostüme zeigen wild und scheinbar willkürlich verteilte breite Farbstriche und Kleckse. Die Kostüme erinnern in den Formen an traditionelle südostasiatische Gewänder. Die Farbsprache ist dieses Mal klar und konzentriert: Auf weißem Grund gibt es schwarze und rote Aufträge. Das macht optisch, wie stets bei Freyer, einiges her.
Die wenigen Protagonisten und der stark geforderte Chor werden in diesem Kunstwerk abgestellt und agieren nur sehr sparsam mit genau abgezirkelten Gesten und Bewegungen. Diese Regie-Manier scheint gerade für eine Bebilderung eines Oratoriums adäquat zu sein und liegt durchaus im Trend der vergangenen Jahre. Peter Sellars etwa hat in der Berliner Philharmonie die großen Passionen von Johann Sebastian Bach szenisch eingerichtet und das Ganze eine „Ritualisierung“ genannt. Dieser Begriff trifft auch auf das zu, was nun in Wiesbaden bei Händel zu sehen ist. Zur Ouvertüre erscheinen die drei männlichen Hauptfiguren und stellen sich wie Säulenheilige einer nach dem anderen auf Podeste. Es sind janusköpfige Gestalten, denn zu den überdeutlich maskenhaft geschminkten Gesichtern sind an ihrem Hinterkopf jeweils ebenso gestaltete Masken angebracht. Mit Stäben vollführen sie zu ihren dann folgenden Auftrittsarien langsame, geheimnisvolle Bewegungen. Wo allerdings die „Ritualisierung“ bei Peter Sellars der Verdeutlichung dient, führt sie bei Freyer zur Verrätselung. Immerhin bekommt man den passenden Eindruck, daß hier Archaisches freigelegt werden soll. Schließlich geht es um nichts anderes als um ein Menschenopfer. Das Libretto von Thomas Morell nimmt die biblische Geschichte des israelitischen Heerführers Jephtha auf, der seinem Gott gelobt, im Falle eines militärischen Sieges das erste Wesen zu opfern, welches ihm nach erfolgreicher Schlacht begegnet. Es wird seine einzige Tochter sein. Das Motiv ist auch aus der griechischen Mythologie bekannt. Im Alten Testament ist es jedoch ein blutrünstiger Skandal, denn eigentlich hatte JAHWE nach der in letzter Sekunde abgewendeten Schlachtung des Isaak durch seinen Vater Abraham die Menschenopfer abgeschafft. Christliche Theologen haben sich daher mit dieser Bibelstelle immer sehr schwergetan. Händels Librettist löst das Problem zeittypisch, indem er durch das Eingreifen von Engeln entgegen der biblischen Tradition das Menschenopfer abwendet und das Oratorium zum beruhigenden lieto fine führt. Die Weisheit, mit der ein gerechter Gott die Welt gefügt hat, wird zuvor ausführlich gepriesen: „Whatever is, is right.“
Der Clou der neuen Wiesbadener Produktion besteht nun darin, dieses beruhigende Ende zu verweigern. Die Rettung bleibt aus. Das Ritual wird vollzogen. Dabei sieht man keine blutrünstige Schlachtung. Jephthas Tochter entschwebt vielmehr sanft ins Jenseits. Geopfert wurde sie gleichwohl. Und so wirkt der Gott, der ein solches Opfer akzeptiert, kalt und unbarmherzig. Die Welt, die er gefügt hat, wird von der Ritualisierung im Handeln der ihm unterworfenen Menschen erstickt. Daß diese Rituale in ihrer hilflosen Absurdität sogar komisch wirken können, hat Freyer im ersten Teil vor der Pause herausgearbeitet. Er kontrastiert dabei die lebhaften Koloraturausschweifungen des Komponisten mit zeitlupenhaften Bewegungen. Dabei stellen sich jedoch auch Längen ein. Der zweite Teil nach der Pause wirkt konzentrierter, wohl auch wegen beherzter Kürzungen, bevor er in den eindringlich-trostlosen Schluß mündet.
Die musikalische Seite gibt sich gediegen. Konrad Junghänel präsentiert mit dem gut aufgelegten Staatsorchester in adäquater Kammerbesetzung ein historisch informiertes Klangbild. Die Streicher spielen vibratolos, und auch die stark geforderten Holzbläser sind um einen prägnanten, unsentimentalen Ton bemüht. Diese Spielweise hat Junghänel dem Orchester in zahlreichen Mozart-Produktionen erfolgreich antrainiert, so daß die Musiker souverän einen klaren Barocksound ertönen lassen, wie man ihn sonst von Spezialensembles kennt. Allerdings hätte man sich eine größere Lockerheit und Ausdifferenzierung gewünscht. Der Klang bleibt gerade im ersten Teil über weite Strecken monochrom.
Der von Albert Horn gut vorbereitete Opernchor kann nicht verbergen, daß er eben das ist: ein Opernchor. Da wabert das Vibrato in zu großer Dosis. Die damit erzielte wohlklingende Fülle läßt letzte Wünsche an Transparenz offen. Zu Karl Richters Zeiten hätte man das wohl goutiert. Dem heutigen Standard an schlanker Stimmführung bei barocker Chormusik entspricht es nicht mehr.
Die Vokalsolisten kommen unterschiedlich gut damit zurecht, daß Junghändel sie ihre Koloraturen in mitunter zackigen Tempi bewältigen läßt. Tadellos gelingt das Terry Wey als „Hamor“ mit seinem saftigen Countertenor, weniger gut Wolf Matthias Friedrich als „Zebul“, der mit seinem kernigen Bariton die eine oder andere Phrase mehr markieren als aussingen muß. Ein solches Durchmogeln durch die Koloraturen ist zunächst auch bei Mirko Roschkowski in der Titelpartie bei seiner Auftrittsarie zu bemerken. Das mag aber der Premierennervosität geschuldet sein, denn im weiteren Verlauf zeigt er mit seinem schlankem, gut geführten Tenor ein musikalisch differenziertes und technisch unangreifbares Rollenporträt. Eine guten Eindruck macht auch der bronzen getönte und gut geführte Mezzosopran von Anna Alàs i Jové in der Rolle von Jephthas Frau „Storgè“. Als zu opfernde Tochter „Iphis“ erscheint das Ensemblemitglied Gloria Rehm nicht optimal besetzt. Mit ihrem soubrettigen Sopran sucht sie lange nach dem richtigen Ton. Überzeugend wirkt sie erst im zweiten Teil, wenn sie das schicksalsergebene Opfer mit mädchenhafter Schlichtheit anrührend zeichnet.
Das Publikum zeigte sich über weite Strecken sehr zurückhaltend, spendete selten und dann eher schütter Szenenapplaus. In den Pausengesprächen war eine gewisse Ratlosigkeit über die Absichten des Regisseurs allenthalben zu vernehmen. Der dichte zweite Teil jedoch und der beeindruckende Schluß sorgten dafür, daß am Ende dem gesamten Team ungeteilter Jubel entgegengebracht wurde.
Weitere Vorstellungen gibt es am 10., 13., 16. und 22. Februar, am 8. März sowie am 4. und 15. April.
Michael Demel, 07. Februar 2018
Bilder: Monika und Karl Forster