Wiesbaden: „Turandot“, Giacomo Puccini

Requiem für Liù

Jede Turandot-Inszenierung steht und fällt mit der Grundentscheidung für die Fassung, die man zur Aufführung wählt. Puccini hat bekanntlich die Komposition seiner letzten Oper nicht beendet. Zur postumen Uraufführung wurden die Finalszenen vom Komponisten Franco Alfano ergänzt. Auch Luciano Berio hat eine Fassung für den Schluß erstellt. Bei der Frage, ob diese Versuche der Fertigstellung gelungen sind, finden musikalische Aspekte weniger starke Beachtung als dramaturgische. Hatte Puccini trotz vorhandener Lebenszeit die Finalszene womöglich deswegen nicht vertont, weil sie ihn inhaltlich nicht überzeugte? Ist nicht das urplötzlich triumphal hereinbrechende Ende nach zweieinhalb Akten der Grausamkeiten, die Wandlung einer rachsüchtigen Eisprinzessin zur unterwürfig liebenden Verlobten völlig unglaubwürdig? Hatte sich Puccini nicht sogar selbst mit der auf seinen Wunsch hinzugedichteten Figur der Sklavin Liù in eine Sackgasse hineinmanövriert, aus der er nicht mehr herauskam? Ist nicht das der wahre Grund, warum der Komponist nach dem tragischen Selbstmord dieser einzigen Sympathieträgerin in der Oper kein angemessenes Ende finden konnte? Manche Inszenierung beläßt es daher bei dem Torso und bricht genau da ab, wo der Komponist nicht mehr weitermachen konnte.

Heather Engebretson (Liù) / © Karl und Monika Forster

Das Produktionsteam um Daniela Kerck hat sich für die Torso-Fassung entschieden und dieser Entscheidung einen biographischen Überbau gegeben. So wie die Dienerin Liù sich selbst opfert, um das Namensgeheimnis des von ihr geliebten Calàf zu wahren, so habe sich ein Dienstmädchen im Hause Puccini selbst vergiftet, als es von der eifersüchtigen Gattin des Komponisten fälschlich einer Affäre mit diesem bezichtigt wurde. Tatsächlich wahrte sie dabei das Geheimnis, daß Puccini mit ihrer Cousine ein Verhältnis hatte. Diese Parallele von Leben und Werk bildet die Inszenierung ab. Das Bühnenbild bietet dazu als Rahmen einen weiträumigen, dezent im Art-déco-Stil eingerichteten Salon. Dessen Rückfront säumt ein Tor-artiger Raumteiler, hinter welchem eine Fläche für großformatige Bildprojektionen der Videokünstlerin Astrid Steiner bereitsteht. Noch bevor die Musik einsetzt, blickt man dort auf die offene See: Puccini verbrachte seine letzten Jahre in einer Villa in Torre del Lago am Ligurischen Meer. Zur ersten Szene wandelt sich das Bild und zeigt eine Bibliothek. Der Komponist tritt auf, unschwer zu erkennen an seinem Schnurrbart und einem weißen Anzug, setzt sich an einen Schreibtisch und arbeitet an einer Partitur. Ein Dienstmädchen serviert ihm Kaffee. Erneut wandelt sich die Szene. Der Raumteiler erweist sich als Tor zu einer chinesischen Gartenlandschaft mit Teich. Malerisch fallen rötliche Blätter von den Bäumen. Vor diesem Hintergrund spielt nun die Märchenhandlung. Der Komponist erscheint darin als Calàf, das Dienstmädchen als Liù. Mit diesem Hereinbrechen einer chinesisch kostümierten Märchenwelt durch Transzendierung des erzählerischen Rahmens hat das Produktionsteam sich die Möglichkeit geschaffen, die Handlung immer wieder gleichsam ungebrochen und aus sich selbst heraus zu erzählen. Die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer und Frank Schönwald zitieren dazu chinesische Kleidungsstile und prunken bei Kaiser und Prinzessin mit phantasievollen Mänteln und prächtigem Kopfputz wie aus dem Bilderbuch. Effekt macht auch der Einsatz von chinesischen Masken bei Turandot und der Volksmenge. So gelingen starke Bilder, welche die Regisseurin mit einer schlüssigen Personenregie belebt. Sehr überzeugend ist dabei der Einfall umgesetzt, Turandots jüngstes Opfer, den persischen Prinzen, als Tänzer auftreten zu lassen (ausdrucksstark: Gabriele Ascani), der vor einer gnadenlosen Volksmenge verzweifelt um sein Leben tanzt.

Gabriele Ascani (Persischer Prinz) mit Chor / © Karl und Monika Forster

Obwohl die Figur der Liù in der gewählten Fassung und durch die biographische Einrahmung zur zentralen Gestalt gerät, versucht die Regisseurin, der von Libretto und Komponist typenhaft gezeichneten Titelfigur individuellere Züge zu verleihen. Das geschieht optisch dadurch, daß Turandot hinter ihrer Maske hervortritt und sich etwa in zärtlich-liebevoller Melancholie dem todgeweihten persischen Prinzen zuwendet. Stark gerät auch der Moment nach der Lösung des dritten Rätsels: Turandot wird ihres prachtvollen Herrschaftsmantels entkleidet, von Calàf gepackt und wie ein gefesseltes Beutetier herumgetragen. Hier realisiert sich Turandots Alptraum, wie ihre unglückselige Vorfahrin von einem Tatarenfürsten überwältigt und gewaltsam mißbraucht zu werden.

Die Märchenhandlung vereint sich beim Tod der Liù wieder mit dem biographischen Rahmen. Zurück im Salon der Villa ersticht sich das Dienstmädchen, während Puccini teilnahmslos am Flügel sitzt, so wie Calàf im Märchen den Opfertod der Liù ohne Reaktion geschehen läßt. Turandot erscheint als des Komponisten Gattin, versucht ihn sanft zu trösten. Nach einem Moment der Stille setzt dann doch Musik ein: Hinter der Szene intoniert der Chor sanft das Requiem von Puccini, ein kurzes Stück mit Orgelbegleitung und Solobratsche, welches den Text der Antiphon zum Introitus des lateinischen Requiems vertont. Dazu erscheint als Projektion wieder das Meer. Es ist ein Requiem für Liù. So gelingt es dem Produktionsteam, den Torso mit Original-Musik des Komponisten überzeugend abzubinden. Dieser melancholisch-leise Schluß überzeugt weit mehr, als das lautstarke und unpassend triumphale Schein-Happy-End der gängigen Spielfassung.

Schlußbild / © Karl und Monika Forster

Die starken optischen Eindrücke werden aus dem Orchestergraben heraus von einer ebenso starken musikalischen Leistung gestützt. Yoel Gamzou am Pult des bestens aufgelegten Orchesters präsentiert einen sehr plastischen Soundtrack in kräftigen Farben. Der Chor zeigt sich klangmächtig, leistet sich aber in den Männerstimmen den ein oder anderen Wackler bei den Einsätzen.

Die szenische Fokussierung auf das Schicksal der Liù bringt es mit sich, daß deren Interpretin in den Vordergrund rückt. Heather Engebretson erscheint bereits optisch wie zuletzt in der Frankfurter Butterfly als Kindfrau perfekt gecastet. Musikalisch passend verfügt ihre Stimme über ein helles und klares Grundtimbre, aus dem heraus die Sängerin zu großer Expansion fähig ist. Die Turandot wird für gewöhnlich dem dramatischen, ja hochdramatischen Fach zugeordnet. Nicht wenige Wagner-Heroinen haben hier ihre Stärken ausspielen können. Olesya Golovneva verfügt nicht über eine derart gestählte Stimme. Bei ihrem ersten Einsatz im zweiten Akt muß sie in den Rätselfragen hörbar forcieren. Umso eindringlicher kann sie die Verzweiflung der besiegten Prinzessin gestalten, findet hier zu einem berührenden Ton und verleiht ihrer Figur tragische Tiefe. Rodrigo Porras Garulo bringt die für den Calàf passende Anlage eines Spinto-Tenors mit und überzeugt besonders mit seiner bronzen getönten Mittellage. Beim Wunschkonzert-Hit Nessun dorma schlägt er sich wacker, und es ist womöglich ein wenig unfair, wenn man anmerkt, daß man die Spitzentöne schon mit mehr Strahlkraft gehört hat. Young Doo Park bringt seinen klangsatten Baß als Timur gut zur Geltung, und auch die übrigen Partien sind rollendeckend besetzt.

Olesya Golovneva (Turandot) mit Chor / © Karl und Monika Forster

So fügt sich aus attraktiver Optik, lebendigem Spiel, kraftvollem Orchestersound und guten Sängern eine überzeugende Gesamtleistung, die vom Premierenpublikum mit ungeteiltem Beifall gefeiert wird.

Michael Demel, 15. April 2024


Turandot
Dramma lirico von Giacomo Puccini

Staatstheater Wiesbaden

Premiere am 13. April 2024

Inszenierung: Daniela Kerck
Musikalische Leitung: Yoel Gamzou
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Trailer