Besuchte Aufführung am 13.01.2022
Eine völlig neue Konstellation von „Werther“ (Jules Massenet) bot sich am Hessischen Staatstheater Wiesbaden zur Sichtweise des Regisseurs Ingo Kerkhof welcher alle Nebenfiguren ausblendete und lediglich die vier Hauptpersonen ins Zentrum des Dramas rückte. Dank des großartigen Engagements der Sänger-Darsteller entstand ein spannendes Kammerspiel á la Strindberg dieser tragischen menage a troit. Unterstützt wurde die optische Sogwirkung zudem von der leeren Bühne (Dirk Becker) beherrscht lediglich vom quadratischen Plateau mit einem Baum von oben herabhängend und zuweilen in die Bühnenschräge abgesenkt. Im zweiten Bild vereinte sich das Quartett friedlich zum Picknick bis zur dramatischen Eskalation der Gefühle. Im letzten Aufzug war die Baumumgebung mit Briefen bedeckt welche, als sich dieser letztmals in die Horizontale nach oben bewegte, eindrucksvoll nach unten flatterten. Die Créationen der einfachen jedoch sehr kleidsamen Kostüme entwarf Britta Leonhardt. Fazit: eine sehenswert-anspruchsvolle „moderne“ Produktion von ganz besonderem Flair – bravo!
Dem Dirigenten Peter Rundel sei Dank, dass das Hessische Staatsorchester Wiesbaden wieder in seinen altbewährten Qualitätslevel fand und unter seiner umsichtigen Stabführung den bestens disponierten Klangkörper zu typisch französischen „Sound“ animierte. Rundel vereinte filigrane Akkorde, herb-süße Klänge des Saxophons mit dominanten dramatischen Klangfarben und verlieh der Partitur besonders realistische Dimensionen. Dank subtiler Kombinationen schicksalhafter instrumentaler Einschläge unterstrich der umsichtige Dirigent das tragische Bühnengeschehen auf vortreffliche Weise.
Das relativ sehr junge Solisten-Quartett schien sich bar dieses orchestralen Passepartouts sehr wohl zu fühlen und glänzte mit Höchstleistungen. Allen voran der Titelträger Ioan Hotea, er schenkte der schwärmerischen Lichtgestalt Werther nicht nur darstellerische Gefühlsskalen, sondern setzte auch jene in hinreißend wundervolle Töne um. Der inzwischen 31-jährige rumänische Tenor begeisterte mich in div. Partien so auch insbesondere beim Frankfurter Gastspiel des Elvino. Der smarte Sympathieträger bot dem Antihelden sowohl die optische Idealfigur als auch die vokal-emphatischen Attribute. Hotea sang die Partie in filigran-feinsten Nuancen, hielt stets die Balance zwischen intensivem Ausdruck und wohldosierter Distanz. Der Sänger ließ sein lyrisches Timbre frei strömen, schenkte den exponierten Höhen glanzvolle Strahlkraft, dem Mezza voce dennoch kernig-maskuline Spannkraft. Legatissimo in innigem Schmelz erklangen Piani von umwerfender Schönheit. Eine absolut hinreißende Interpretation!
Darstellerisch wie vokal brachte Fleuranne Brockway für Charlotte ein ideales Rollenprofil mit ein. Zur anmutig ausgespielten Bühnenpräsenz beeindruckte die junge Mezzosopranistin mit überraschend stimmlicher Bandbreite, füllig-dunklen Tiefen mit erregendem Vibrato vereinte die charmante Sängerin zu fein differenzierten Farben, leuchtenden Höhen und zarten tragfähigen Piani. Diese Charlotte dürfte in bester Erinnerung bleiben.
Einen sympathischen, jungen, bestens phrasierenden Albert bot Christopher Bolduc, verlieh der sonst strengen Partie weichere Wesenszüge. Zudem punktete der Sänger mit beweglichem, schön timbriertem, volltönend geführtem Kavaliersbariton auf großer Linie.
Der mädchenhaften Sophie schenkte Michelle Ryan lieblich-silbernen Wohlklang und darstellerische Anmut.
Das den Pandemie-Vorschriften wenige Publikum sowie der Rezensent feierten die Künstler mit langanhaltender Begeisterung. Ich werde mit Sicherheit die letzte Vorstellung am 19. Februar am Vortag zur Elektra-WA mit Catherine Foster, quasi mir beide Aufführungen nicht entgehen lassen.
Gerhard Hoffmann, 15.1.22
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Foto (c) Monika und Karl Forster