Bremerhaven: „Mariechen von Nimwegen“

Premiere: 08.06.2019
besuchte Vorstellung: 27.06.2019

Gelungene Symbiose

Lieber Opernfreund-Freund,

das Martinů-Jahr 2019 – der Tod des hierzulande noch immer viel zu selten gespielten tschechischen Komponisten jährt sich heuer zum 60. Mal – ist auch für die hiesigen Opernhäuser Anlass genug, seine Werke auf den Spielplan zu setzen. Ehe in der kommenden Saison die Oper Frankfurt seine Juliette und die Staatsoper Hannover die Griechische Passion zeigt, macht zum Spielzeitabschluss 2018/19 das Stadttheater Bremerhaven den Anfang und spielt Teile seiner Marienspiele und damit gelingt eine echte Entdeckung.

1923 hatte es Martinů nach Paris gezogen, dessen avantgardistische Kunstszene eine große Faszination auf ihn ausübte. Doch nach und nach nahm er mehr und mehr tschechisches Lokalkolorit in seine Arbeiten mit auf, was sich auch in seinen vier Kurzopern zeigt, die er 1935 zu den Marienspielen zusammenfasst und die neben dem in Bremerhaven gezeigten Prolog und dem auf einer flämischen Legende basierenden Mariechen von Nimwegen noch das mährische Weihnachtsspiel Die Geburt des Herrn und Schwester Pasaclina nach einer spanisch-französischen Vorlage umfasst. Sein tonaler Kompositionsstil ist zwar immer wieder von spannungsgeladenen Dissonanzen durchzogen, lässt aber ebenso sehr seine tschechische Seele aufblitzen. Dies zeigt sich in diesem Werk, das wie eine Mischung aus Oratorium, Oper und Theaterstück daherkommt (in Bremerhaven übernimmt der junge Schauspiel Marc Vinzing die Rolle des erzählenden Prinzipals, spielt frisch und versiert und zeigt umwerfende Bühnenpräsenz), besonders deutlich. Der Prolog erzählt das biblische Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen, ist im Wesentlichen ein Chorwerk von monumentaler Wucht mit einzelnen solistischen Einlagen. Mariechen von Nimwegen berichtet dann von dem Mädchen Mariken, das sich im Wald verläuft, dort ausgerechtet auf den Teufel trifft und seiner Verführungskunst erliegt. Sie folgt ihm, lebt sieben Jahre mit ihm ein sündiges Leben, ehe ein biblisches Theaterstück sie bereuen und auf den Pfad der Tugend zurückkehren lässt.

Hauschef Ulrich Mokrusch zeichnet für die szenische Umsetzung dieser Rarität verantwortlich und zieht gleich zu Beginn alle Register. Die biblische Geschichte des Prologs lässt er effektvoll vom zu Anfang im Rang postierten Chor erzählen, ehe die Türen im Parkett aufschwingen und die Sängerinnen und Sänger sich im Saal, rechts und links des Publikums aufstellen. So entsteht ein wahrlich raumfüllender Klang, die „Verkündigung“ hat gleichsam etwas Erhabenes und der stark an ein Oratorium erinnernde Teil des Abends kommt so besonders zu Geltung. Für die Geschichte von Mariechen dann haben Okarina Peter und Timo Dentler, die auch für die dezenten Kostüme verantwortlich zeichnen, einen herabsenkbaren Bühnenboden ersonnen, durch den am Anfang von oben wie durch eine Tennenboden in einer Scheune das Licht fällt. Abgesenkt wird der Boden von Dutzenden Stahlseilen gehalten, die der Konstruktion etwas Filigranes geben und gleichzeitig die Waldkulisse für den Beginn der Erzählung sind. Die ausgezeichnete Personenführung und die eindrucksvollen Licht-und-Schattenspiele schaffen eine ruhige Erzählweise, die herrlich überzeichnete Kostümierung des Bibelspiels steht dazu in gelungenem Kontrast. In genialer Weise werden die verschiedenen Oratorien-, Schauspiel- und Opernteile so ineinander verwoben, dass ein eindrucksvoller Abend entsteht, der umso mehr neugierig macht auf die in Bremerhaven nicht gezeigten Teile der Marienspiele.

Die Sängerinnen und Sänger sind, wie der eingangs schon erwähnte Schauspieler Vinzing, allesamt wie gemacht für ihre Rollen. Victoria Kunzes Mariechen ist eine Frau, die der teuflischen Versuchung naiv erliegt, sich aber nach Jahren der Unterdrückung befreit. Das macht die gebürtige Bambergerin sicht- und hörbar mit ihrem großen darstellerischen Talent und einem farbenreichen Sopran, der alle Facetten ihrer Figur perfekt ausleuchtet. Die Partie des Teufels hat Martinů nicht in die Hände eines Baritons oder Basses gelegt, sondern eine Tenorpartie ersonnen, die Vikrant Subramanian mit heller, glanzvoller Stimme gestaltet. Patrizia Häusermann war mir schon als Törichte Jungfrau im Prolog aufgefallen mit ihrem Wärme verströmenden, ausdrucksstarken Mezzo. So ist auch die Partie der Muttergottes im zweiten Teil bei ihr in den besten Händen. Der Opernchor vollbringt Großes an diesem Abend, auch wenn gerade beim Gesang von der Galerie deutlich wird, dass die Damenstimmen nicht perfekt austariert sind. Ähnliches ist bei den Herren nicht zu beklagen, die singen und spielen fein aufeinander abgestimmt die umfangreiche Partie.

Unter der musikalischen Leitung des jungen Ektoras Tartanis, seines Zeichens 1. Kapellmeister am Haus, kann die Partitur Martinůs in all ihrer Pracht und all ihren Facetten funkeln. Der aus Griechenland stammende Dirigent lässt den an tschechisches Volksliedgut erinnernden Passagen ebenso viel Raum wie den kontrastreicheren, schroffen Passagen des Werkes, setzt gekonnt Akzente und so wird es ein extrem sehens- und hörenswerter Abend, der leider schon nach 80 Minuten endet. Das Publikum im nahezu voll besetzten Haus ist zu Recht begeistert und feiert die Entdeckung dieses außergewöhnlichen Werkes mit lang anhaltenden Ovationen.

Ihr Jochen Rüth 29.06.2019

Bilder siehe unten Premierenbesprechung