Stuttgart, Ballett: „Der Nussknacker“, Pjotr Iljitsch Tschaikowski

Lange hat Stuttgart auf einen Nussknacker warten müssen, denn John Crankos leider nicht aufgezeichnete Version liegt bald 60 Jahre zurück und war kein Erfolg, und Marco Goeckes spezielle Fassung mit nur einem Teil der Musik setzte auf psychologische Abgründe statt auf eine bunte Märchenwelt für die ganze Familie.

(c) Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Die Zusammenarbeit von Choreograph Edward Clug und Ausstatter Jürgen Rose zeitigte im letzten Winter eine Kombination aus Tradition und Innovation, aber ohne die großen technischen Ansprüche einer klassisch orientierten Compagnie und unter Verzicht auf den Zuckerguss zugunsten einer fantasievollen Spielzeugwelt aus Figuren und Tieren, die dann zunehmend lebendig werden. Bei diesen ersten Begegnungen vor einem Jahr überwog noch die Gespanntheit auf die zahlreichen Überraschungen, die sich durch die allerlei von Menschen verkörperten Vierbeinern und Flügelwesen im hochästhetischen Gewand von Rose entfalten. Natürlich gibt es weiterhin im wuseligen Geschehen des Weihnachtsabends bei Familie Stahlbaum noch viele Details zu entdecken, doch es schält sich mehr und mehr heraus, dass der tänzerische Ertrag der Choreografie hauptsächlich auf das rhythmisch synchrone Funktionieren verschiedener Gruppen und die Koordination untereinander konzentriert ist. Technisch gesehen ist das von einer klassisch traditionellen Version um Einiges entfernt, für die Compagnie bedeutet es gemessen am sonstigen Repertoire einen Spaziergang. Das Hauptpaar ist selbst im Grand Pas de deux der Vereinigung mit nur teilweisen Ansätzen und Ableitungen der Grande École unterfordert. Zwischendurch hat leichte Kost für die Tänzer indes auch ihre Berechtigung, zumal Clugs Konzept mit der verständlichen Dramaturgie von Vivien Arnold und getragen von Roses optischer Großzügigkeit mit einigen ironischen und humorigen Zutaten gut herüber kommt. Ausverkaufte Vorstellungen weit im Voraus sind jedenfalls unabhängig von den vier unterschiedlichen Hauptrollen-Besetzungen garantiert.

Hier ist zuerst von derjenigen der Premiere vom November 2022 die Rede: die jüngst zur Kammertänzerin ernannte Elisa Badenes lässt sich, wie sie u.a. bei diesem Anlass gepriesen wurde, in jede Rolle, so auch in die der jungen Clara instinktsicher, in allen Bewegungen gelöst und in jedem Moment hellwach hineinfallen. Da mischen sich kindliche Freude, Angst und Neugier sowie das Wachsen an den Traum-Begegnungen glaubhaft real. Dazu Friedemann Vogel in der Doppelrolle mit zunächst zweiseitiger Kostümierung als Nussknacker und verzauberter bzw. später durch Claras Liebe befreiter Prinz. Jede Bewegung offenbart bei ihm eine besondere Qualität, eine Gestaltung sublimiert aus großer Erfahrung und dazwischen immer noch aufblitzendem jugendlichem Strahlen.

(c) Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Ein etwas anderes Bild ergibt sich bei der Alternative: Rocio Alemans Clara ist erwachsener und dennoch mädchenhaft in der Ausstrahlung und in ihrem viel Herz und Gefühl vermittelnden Einsatz, dazu mit einem richtigen Traumpartner, einem Bild von Prinz wie Marti Paixa, der in der zweifachen Funktion eine wandelbare Körpersprache zwischen Gefangenschaft und Freiheit beweist.

Beide Male adelt Jason Reilly den Part des Drahtziehers Drosselmeier mit seiner bloßen Bühnen-Präsenz und der Wirksamkeit seines vorwiegend auf Gesten und wenige Sprünge beschränkten Vokabulars. Matteo Miccini gibt wieder Claras Bruder Fritz als herzhaften Buben mit Charisma und präzisen Drehungen und Wendungen. Unter all den kleineren Parts sind noch Matteo Crockard-Villa als schalkhafter Großvater und späterer Papa einer köstlichen Käferschar, Alessandro Giaquinto und Henrik Erikson (auch in weiteren Rollen) als im Blumenwalzer, der hier zum schillernden Schmetterlingsreigen umfunktioniert wurde, für viel Stimmung sorgende Freunde von Fritz sowie Diana Ionescu als Waldkönigin hervor zu heben, die als Solistin auch in einem so kurzen Auftritt die Blicke auf sich zieht.

(c) Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Neben dem Torero-Trio, Harlenkins, Matroschkas und Kosaken, Eichhörnchen, Hirschen, auf Spitzen balancierenden Waldfeen und natürlich zuvor schon den Mäusen samt ihrem wilden König Marc Ribaud sorgte der gekonnte Reigen der beiden Kamele wieder für die größte Begeisterung. Somit dem Corps de ballet und zahlreichen Schülern der John Cranko-Schule ein großes Pauschal-Lob. Das hatte sich auch MD Mikhail Agrest verdient, der die im zweiten Akt in den Divertissements-Teilen etwas umgestellte Partitur Tschaikowskys vom Staatsorchester Stuttgart oft erfreulich schlank, nie dick im Ton, farblich differenziert und dennoch in all ihrer üppigen Gestalt einforderte.

Viel Applaus zwischendurch und Begeisterung, die sich nach jedem Schlussvorhang noch weiter steigerte.

Udo Klebes, 28. Dezember 2023

Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)


Der Nussknacker
Pjotr Iljitsch Tschaikowski

Stuttgarter Ballett
15.+ 20. Dezember 2023