16. Juli 2014 Styriarte, Helmut-List-Halle Graz
Zeitgemäße Musikvermittlung auf höchstem Niveau!
Innerhalb des vielfältigen styriarte-Programms gibt es seit 2012 einen eigene Programmschiene: die „SOAPS“. Intendant Mathis Huber sagte darüber einmal, die SOAPS sollen „das zweite Standbein neben Nikolaus Harnoncourt" bilden. Der Mix aus Musik, Texten und aus den auf eine Leinwand übertragenen Details sei ein "neues Konzerterlebnis, wobei das Ganze mehr ist als die Summe der einzelnen Elemente.“ Im Jahre 2014 waren die vier SOAP-Abende Franz Schubert, Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven und zuletzt Gustav Mahler gewidmet. Und diese Programmschiene ist tatsächlich beim Publikum sehr beliebt. Die List-Halle mit ihren rund 1200 Plätzen war an diesem Abend praktisch ausverkauft. Durch geschickte Programmzusammenstellung, den Medieneinsatz und die Moderation gelingt es, in dieser nüchtern-großen Konzerthalle kammermusikalische Intimität zu schaffen und dem Publikum die Persönlichkeit Mahlers eindrucksvoll nahe zu bringen.
Ein seit Jahren bekanntes und beliebtes Mahler-Programm (mit Liedern von Rückert, aus „Des Knaben Wunderhorn“ und „eines fahrenden Gesellen“), das Elisabeth Kulman mit Amarcord Wien auf CD aufgenommen hat, wurde von der Dramaturgie mit Lesungen, einem kurzen Video-Film und Originalaufnahmen von Gustav Mahlers Klavierspiel ergänzt und so mit Erfolg zu dem von Intendant Huber intendierten „neuen Konzerterlebnis“ zusammengefügt. Dabei galt es diesmal ganz kurzfristig in einem zentralen Punkte umzudisponieren. Eine Woche vorher las man nämlich auf der Facebook-Seite von Elisabeth Kulman:
„Aufgrund eines Erschöpfungszustandes, hervorgerufen durch langfristige, mehrfache Dauerbelastung, kann die Künstlerin leider in den nächsten Wochen ihren Konzertverpflichtungen nicht nachkommen. Gemeinsam mit ihren Ärzten und ihrem Management hat sie sich schweren Herzens und mit großem Bedauern für die Veranstalter und Fans zur Absage durchgerungen. Mit ihrem Engagement als leidenschaftliche Sängerin und "Revolutionärin" war ein Belastbarkeitslimit erreicht, das diesen bereits länger hinausgezögerten Schritt nun leider unumgänglich machte.“
Nun weiß man, dass die hochartifizielle und am Höhepunkt ihrer Interpretationskunst stehende Elisabeth Kulman eigentlich nicht zu ersetzen ist. Aber der styriarte ist es zu danken, dass dennoch eine großartige, ja gleichrangige Lösung gefunden werden konnte. Iris Vermillion , in Graz zuletzt als drastische Klytaimnetra und großartige Küsterin in Jenufa umjubelt, sprang ein und erzielte einen uneingeschränkten und verdienten Publikumserfolg.
Wenn die reife Künstlerin Vermillion barfuß (wohl gleichsam direkt mit der Erde verbunden) im langen schwarzen Rock und in einfacher weißer Bluse völlig uneitel, durch das schlichte Auftreten das Podium beherrschend, zwischen den Musikern des hervorragenden Amarcord-Ensembles steht und ihre warme, dunkle Stimme mit perfektem Registerausgleich strömen lässt, dann herrscht atemlose Spannung im Publikum. Und es ist natürlich reizvoll, nun im Rückblick auf den gestrigen Abend Kulmans Interpretation auf dem verfügbaren Video der CD-Aufnahme aus dem Jahre 2009 zu verfolgen. Da erlebt man die jugendliche, eher helle, vorwärtsdrängende und besonders textorientierte Interpretation der zum Zeitpunkt der Aufnahme 35-jährigen Kulman – und man ist begeistert. Und daneben steht für mich völlig gleichberechtigt die melancholisch-gefasste, ganz anders geartete, primär vom Stimmwohlklang ausgehende Interpretation der 54-jährigen Vermillion. Gerade dieser Vergleich zeigt, dass es bei großen Meisterwerken unterschiedliche Zugänge gibt, ja geben muss. Die erfahrene Mahlerinterpretin Vermillion hat mich an diesem Abend restlos überzeugt. Bewundernswert, wie sie ihre große dramatische Stimme ideal in das schlanke Klangbild des Kammermusikensembles einfügt. Bewundernswert sind auch die vier Musiker von Amarcord : der Geiger Sebastian Gürtler (von ihm stammen zwei Arrangements) besticht durch Klarheit, das Akkordeon von Tommaso Huber gibt dem Ensemble Bodenständigkeit, der Cellist Michael Williams steuert warme Kantilenen bei und der Kontrabassist Gerhard Muthspiel ist das rhythmische Zentrum. Von ihm stammen auch praktisch alle Arrangements, die sich in ihrer kammermusikalischen Präzision optimal mit der Gesangstimme verbinden. Lediglich bei der Version des Adagiettos aus der 5.Sinfonie vermisste ich den üppigen Streicherklang, so schön auch Gürtler die solistische Violinstimme spielte.
Die Meisterschaft des Ensembles und der Iris Vermillion zeigte sich nicht zuletzt auch darin, dass man als Zuhörer das Gefühl vermittelt bekam, die Stücke seien gerade für diese fünf Musikerpersönlichkeiten geschrieben. Sie musizieren mit solcher Selbstverständlichkeit miteinander, als würden sie dies bereits seit Jahren tun. Elisabeth Kulman hat dem Grazer Publikum sehr gefehlt – aber es war so, wie es der moderierende Dramaturg Thomas Höft sagte: Kulmans Absage war ein großer Verlust – Vermillions Einspringen ein großer Gewinn!
Eine besonders reizvolle Gegenüberstellung erlaubte die Präsentation des Klavierautomaten, des „Welte-Mignon-Reproduktionsklaviers“. Ein Mitarbeiter des Technischen Museums Wien erklärte dem staunenden Publikum die Funktionsweise dieses Geräts. An diesem Abend hörten wir Aufnahmen, die Gustav Mahler im Jahre 1905 eingespielt hatte Mit dem Automaten war es möglich, das einmal aufgenommene Spiel des Pianisten Gustav Mahler inklusive der Anschlagsdynamik weitestgehend originalgetreu wiederzugeben, indem man den Welte-Automaten wiederum einem Klavier vorsetzte und durch Abspielen der Lochstreifen das konservierte Spiel wieder ins Leben rief. Das Klavier, dem der Automat vorgesetzt wurde und das also Gustav Mahler mittels Lochstreifen an diesem Abend von neuem bespielte, ist ein historischer Bösendorfer-Flügel aus dem Jahr 1908 aus dem Besitz der Grazer Klavierfirma Streif. Mahler spielte seine Lieder in für uns ungewohnt hastig-raschem Tempo mit vielen rubati – einfach so „rastlos“, wie er von seiner Frau Alma beschrieben wurde.
Wie sich die extreme schöpferische Anspannung Mahlers immer wieder in grotesker Weise an der banalen Wirklichkeit aufrieb, das haben die Frauen an seiner Seite beschrieben: zunächst die Bratschistin Nathalie Bauer-Lechner, Zeugin seiner frühen Jahre am Attersee und der ersten Sommer am Wörthersee, bis sie von Alma Schindler abgelöst wurde, die Ende 1901 in Mahlers Leben trat und die Mahler 1902 heiratete. Texte dieser beiden Frauen las Eva Herzig.
Herzig hatte als als blutjunge Schauspielstudentin an der Grazer Musikhochschule den Sprung ans Wiener Burgtheater geschafft und dort mit 22 Jahren die Julia in Shakespeare „Romeo und Julia“ gespielt. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren entschied sie sich zur Kündigung am Burgtheater, um nach Berlin zu gehen und fortan als freie Schauspielerin zu arbeiten. Es folgten Gastengagements unter anderem ans Schauspiel Bonn, an das Schauspielhaus Zürich und ans Theater Basel. Seit diesen Grazer Anfängen sind über 20 Jahre vergangen – inzwischen ist sie vor allem in Film und Fernsehen aktiv. Herzig las die Texte mit Distanz und in angenehmer Natürlichkeit – nie vorgebend, die kapriziöse Salondame darstellen zu wollen, die Alma Mahler zweifellos war. Dazu eine Äußerung von Ernst Krenek über die Witwe Alma Mahler (seine Schwiegermutter!): „Sie war damals Anfang Vierzig und sicherlich für jedermann ein lohnender Anblick, ein prächtig aufgetakeltes Schlachtschiff, etwas korpulent, doch nicht zu sehr und voll unerschöpflicher und scheinbar unzerstörbarer Vitalität“ (Ernst Krenek in seiner monumentalen, nun wieder neu aufgelegten und unbedingt lesenswerten Autobiographie „Im Atem der Zeit“). In einer Filmeinspielung erschien dann sogar Gustav Mahler selbst – von Johannes Silberschneider eindrucksvoll und glaubhaft im Komponierhäuschen am Attersee verkörpert und von der örtlichen Blasmusikkapelle mit einem Trauermarsch begleitet. Es lohnt sich, das etwa 6 Minuten dauernde Video anzuschauen.
Klavierautomat, Lesungen und Video ergänzten die Mahler-Lieder ausgezeichnet, ohne sich ungebührlich in den Vordergrund zu drängen. Die Musik Gustav Mahlers stand an diesem Abend im Mittelpunkt – und das in einer besonders gelungenen und dichten Form. Alle Beteiligten wurden am Ende vom Publikum umjubelt – und der Jubel galt auch dem rührenden Golden Retriever von Iris Vermillion, der den ganzen Abend mit auf dem Podium war – und damit auch ein charmantes Detail des unterhaltsamen SOAP-Formats bildete. Der Styriarte ist zu dieser Musikvermittlungsform zu gratulieren – da verbindet sich zeitgemäßer Medieneinsatz mit Musikinterpretation auf höchstem Niveau!
Hermann Becke, 17.Juli 2014
Aufführungsfotos: © styriarte/Werner Kmetitsch
Und wer sich für den Welte-Mignon-Flügel näher interessiert, der kann sich das hier anschauen und auch einen akustischen Eindruck von Gustav Mahlers Klavierspiel gewinnen