Mailand: „Die tote Stadt“

Vorstellung am 17.6.19 (Premiere am 28.5.)

Triumphale Erstaufführung

Zu den Werken, die die Scala bisher noch nicht erreicht hatten, gehört Erich Wolfgang Korngolds Sensationserfolg aus 1920. Es war daher eine richtige Entscheidung des Intendanten Alexander Pereira, dafür zu sorgen, dass diese Lücke geschlossen wird. Mit einem großartigen musikalischen und Regieteam ist das Unternehmen, welches ein wenig als Wagnis galt, denn auch mit außergewöhnlich großem Erfolg gelungen.

Korngolds trotz des hörbaren Einflusses von Strauss und Puccini (einem großen Bewunderer des jungen Komponisten), aber auch Schönberg und sogar Janácek durchaus eigenständige Musik wurde von Alan Gilbert (der an der Scala bisher nur bei „Porgy and Bess“ tätig war) mit einem Einsatz und Feuer dirigiert, das sich hundertprozentig auf das Orchester des Hauses übertrug. Als Hörer ertrank man förmlich in den Klangmassen, die aber doch stets gebändigt, und vor allem die Sänger nie zudeckend, daherkamen. Das war besonders wichtig angesichts eines mehr als einmal vom Orchester geforderten fortissimo bei für die Sänger vorgeschriebenem piano.

Gesanglich durfte man hervorragenden Leistungen beiwohnen. Die nach ihrem Salzburger Sensationserfolg als Salome an der Scala debütierende Asmik Grigorian bestätigte mit ihrer Leistung, dass solche Triumphe nicht von ungefähr kommen. Zunächst muss gesagt werden, dass die Künstlerin ein Charisma hat, das schon bei ihrem ersten Auftritt schlagend wird, ohne dass sie sich in den Vordergrund spielen müsste. Ihre Darstellung der Marietta erfasst jede Nuance der nicht nur lebenslustigen, sondern geradezu nach Leben gierendem Ballerina, die Verspieltheit wie die erotische Ausstrahlung.

Dazu gesellt sich eine Stimme, die den hohen Ansprüchen, die Korngold an seine Sänger stellt, gewachsen ist, denn sie „hat“ nicht nur alle Noten der hochliegenden Rolle, sondern ihrem Sopran wohnt ein Zauber inne, ein schmelzreiches Timbre, das gefangen nimmt. Mit einem Wort: Ein Ereignis! Stimmlich stand ihr Klaus Florian Vogt in der unangenehm hoch notierten Rolle des Paul um nichts nach. Sein oft als „Knabensopran“ geschmähter Tenor hat an Timbre dazugewonnen – er ist weiterhin hell, scheint mir aber auch biegsamer als früher. Auch schauspielerisch war er auf der Höhe, musste aber neben Grigorian bis zu einem gewissen Grad verblassen. Der Dritte im Bunde war Markus Werba, der sowohl als Frank, als auch als Pierrot Fritz überzeugte und aus „Mein Sehnen, mein Wähnen“ sehr viel machte. Stimmlich gut, wenn auch ein Mezzo und kein Alt, wie hier verlangt, war Cristina Damian als Haushälterin Brigitta, deren Wortverständlichkeit aber zu wünschen übrig ließ. Sehr überzeugend geriet auch der Auftritt von Mariettas Kollegen in der Gestalt von Sascha Emanuel Kramer (Albert/Gaston), Marika Spadafino (Juliette), Daria Cherniy (Lucienne), Sergej Ababkin (Victorin) und Hwan An (eine Stimme im Quintett). Die vier letztgenannten sind Studenten der Accademia della Scala. Auch der von Bruno Casoni einstudierte Chor erbrachte eine tadellose Leistung.

Die Entstehungszeit des Werks ist die Basis von Graham Vick s Regiearbeit. Er scheint in dieser Handlung der weiblichen Emanzipation mehr Gewicht zu geben, als Freud’scher Tiefenpsychologie, wodurch Marietta stärker in den Mittelpunkt tritt als Paul und seine Neurosen. Dass sich dieser (vielleicht) von seinen Phantasien befreit, ist Marietta geschuldet, die schon frei und kein Opfer besagter Phantasien ist. Viel Raum gibt Korngold (und mit ihm Vick) dem Brügge durchquerenden Fronleichnamszug, der Pauls kranke Religiosität mit ihrem Hang zum überhöhten Leiden darstellt. Hier gibt es Höhepunkte der Bühnenbilder von Stuart Nunn zu sehen: Waren sie überzeugend in der Präsentation von Pauls der verstorbenen Marie huldigender Wohnung, so repräsentierten sie mit riesigem Totenschädel und wie bei einem Autodafé zuckenden Flammen das, was Korngold als Jude vermutlich an der katholischen Religion unverständlich fand. Nunns Kostüme entsprachen der Zeit, in der Vick die Handlung verlegt hatte. Einen großen Anteil am starken visuellen Eindruck hatten die Lichtregie von Giuseppe di Iorio und vor allem auch die entfesselte Choreographie von Ron Howell für die Szene der Komödianten. Eine kleine Einschränkung hinsichtlich der Regie betrifft die Verwendung eines in den Zwanzigerjahren anachronistischen Flachfernsehers, aus dem Maries Lied dringt und Grigorian faktisch in die Kehle gesehen wird, was ästhetisch überaus störend ist.

Doch sei’s drum. Die Produktion war ein Riesenerfolg, der Mundfunk hat offenbar funktioniert, das Haus war voll und das Publikum hingerissen. Getrampel und Beifallsorgien für den Dirigenten und die Sänger, spezielle Spitzenwerte der Zustimmung für Asmik Grigorian.

Eva Pleus 26.6.14

Bilder: Brescia e Amisano / Teatro alla Scala