Mailand: „Thaïs“

Aufführung am 2.3.22 (Premiere am 10.2.)

Jules Massenets zehnte Oper war an der Scala bisher nur einmal gespielt worden, und zwar 1942 in italienischer Sprache unter der Leitung von Gino Marinuzzi, mit Mafalda Favero in der Titelrolle und Gino Bechi als Athanael. Das 1894 in Paris uraufgeführte Werk war allerdings bereits im Teatro Lirico (1903) und im Teatro dal Verme (1911) zu sehen gewesen.

Für die Scala handelte es sich bei dieser Produktion somit um eine Erstaufführung in der Originalsprache. Die in Alexandrien im 3. Jahrhundert n. Chr. spielende Handlung beruht auf einem 1890 publizierten Roman von Anatole France (recte: Anatole François Thibault). Erzählt wird von dem Mönch Athanaël, der die Kurtisane Thaïs bekehren und ihrem Lasterleben ein Ende machen will. Zuletzt sehen wir, wie ihm dieser Vorsatz gelingt, allerdings ist er es, der nun die Heiligmäßige mit sinnlicher Begierde liebt. Die Rollen sind getauscht, aber die von den ihr auferlegten Strapazen während des Gangs durch die Wüste zu einem Frauenkloster geschwächte Thaïs stirbt in Verklärung und lässt Athanaël mit seinen peinigenden Gefühlen zurück.

Massenet ließ sich von seinem Librettisten Louis Gallet eine in freien Versen geschriebene, der Vertonung sehr entgegenkommende Handlung schreiben, wobei allerdings die im Roman auch vertretene Ironie nicht übernommen wurde. (Ähnliches findet sich auch bei Tschaikowsky und seinen auf Puschkin basierenden Opern „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“).

Die Musik changiert zwischen Orientalismen in der Beschreibung der sündigen Stadt Alexandrien und strengen, teils gregorianisch inspirierten Tönen in der Mönchsgemeinschaft. Wirklich populär wurde nur das „Méditation“ genannte Violinsolo, das den Kampf der Thaïs mit sich selbst und die Entscheidung für eine Läuterung illustriert.

Regisseur Olivier Py hatte sich für eine Verlegung der Handlung in eine Art Kasino im Stil von Las Vegas entschieden, in der halbnackte, schwarz bestrumpfte Girls den Verfall der Sitten illustrieren sollten (Bühnenbild und Kostüme: Pierre-André Weitz). Auf dem dreistöckigen, in jedem Stock in zwei Räume geteilten Gebäude waren Dantes Eingangsverse der „Göttlichen Komödie“ zu lesen – Hinweis mit dem Holzhammer auf den verlorenen Pfad (der Tugend?). Um blasphemisches Gebaren zu zeigen, ließen sich einige Personen zum Spaß an ein Kreuz nageln. Die an sich je nach Szene zwischen grauen Wolken und flammendem Rot wechselnde Beleuchtung (Bertrand Killy) wäre als gelungen zu bezeichnen, hätte sie mit sich drehenden, glitzernden Rädern wie im Prater nicht eine unpassende Folie für die vor einem Spiegel gemachten Überlegungen der Kurtisane über ihre in Zukunft wohl schwindende Schönheit abgegeben. Von einem intimen Selbstgespräch konnte in solcher Umgebung keine Rede sein. Da waren die an Matthias Grünewalds „Die Versuchung des Hl. Antonius“ inspirierten Bilder schon besser gelungen. Die Wüste war nicht zu sehen, das Frauenkloster wurde durch eine düstere Mauer symbolisiert, Thaïs starb auf einer Art Feldbett. Die Gewandung der Nonnen erinnerten an die Uniformen der Heilsarmee. Die „Méditation“ wurde recht eindrucksvoll vertanzt (Choreographie: Ivo Bauchiero).

Zu dieser recht oberflächlichen Auslegung durch den Regisseur stand die musikalische Leitung von Lorenzo Viotti in stärkstem Gegensatz, denn der junge Maestro vermochte jegliches Abgleiten in den (hier mehr als in anderen Werken Massenets) hinter jeder Ecke lauernden Kitsch zu vermeiden und ließ das Orchester des Hauses mit süffigem Klang, aber frei von Sentimentalität aufspielen. Ich hatte den Eindruck, dass er mehr an diese Oper glaubte als Py. Marina Rebeka ist schon von ihrer glanzvollen Erscheinung her für die Titelrolle prädestiniert und gestaltete die Wandlung von der Sünderin zur Heiligen auch gesanglich sehr glaubhaft, wobei sie auch einige sehr exponierte Spitzentöne sicher bewältigte. Anstelle des Covid-Opfers Ludovic Tézier war als Athanaël der Amerikaner Lucas Meachem zu hören, dessen kräftiger Bariton über nicht allzu viele Farben verfügt, weshalb seine Attacken gegen das Laster ziemlich monoton ausfielen; seine Verzweiflung, als er sich seine Begierde nach Thaïs eingestehen musste, und bei ihrem Tod gelang da besser. Nicias, der bei Athanaëls Auftritt aktuelle Liebhaber der Kurtisane, wurde von Giovanni Sala szenisch eindrucksvoll verkörpert, doch fehlte es seinem Tenor an Fülle. Sein Französisch war außerdem verbesserungswürdig (jenes von Rebeka ausgezeichnet, das von Meachem passabel).

Die Sklavinnen (hier Go-Go-Girls) Crobyle und Myrtale wurden von Caterina Sala (Sopran) und Anna-Doris Capitelli (Mezzo) sauber gesungen; zu ihnen gesellte sich La Charmeuse (die Zauberin) mit ihren Koloraturen in Gestalt von Federica Guida. Palémon, den Obersten der Mönche, sang Insung Sim mit gehaltvollem Bass. Auffallend schön erklang der Mezzo der Ukrainerin Valentina Pluzhnikova von der Accademia della Scala als Albine, Äbtissin des Frauenklosters. Lobenswert auch der von Alberto Malazzi einstudierte Chor des Hauses.

Das Scalarund war erfreulich gut gefüllt, was zum Teil wohl auch auf die zu dieser Zeit stattfindende Settimana della moda zurückzuführen war. Diese letzte Vorstellung der Serie wurde ausgiebig bejubelt.

Eva Pleus 18.3.22

Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala