LA FILLE DU REGIMENT
Teatro Donizetti 3.12.
Bei diesem dem großen Sohn der Stadt gewidmeten Festival (dessen Besetzungen übrigens immer besser werden) kam es erstmals zu einer Koproduktion, und das mit einem Haus, an das man nicht spontan denken würde, nämlich dem Teatro Lirico Nacional de Cuba. In Kuba war die Inszenierung von Luis Ernesto Doñas schon zu sehen gewesen und erwies sich nun als überaus gelungen und unterhaltsam. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich nach der berühmten Produktion von Laurent Pelly mit dem Traumpaar Dessay/Flórez bei diesem Werk nochmals so gut unterhalten würde.
Im 1. Akt zeigte das Bühnenbild von Angelo Sala mit wuchernden Pflanzen und Abbildungen naiver Malerei durchaus karibische Atmosphäre, während der 2. Akt in kaltem Schwarz-Weiß gehalten war und die frostige Atmosphäre in der adeligen Gesellschaft bestens illustrierte. Dazu gab es die stimmigen Kostüme von Maykel Martínez, der die Soldaten in orange Uniformen hüllte, auf der die Nummer des Regiments Nr. 21 zu lesen war, und für die Bauern die typische Kleidung von Feldarbeitern in heißen Ländern. Köstlich auch Marie im Fetzenlook und mit roten Zöpfen. Aufgeboten war auch der Trommler Ernesto López Maturell, der auf der Bühne wiederholt Kostproben der tollen Beherrschung seines Instruments gab. Die Bewegungsregie war überaus natürlich; es wurde geblödelt, aber nie chargiert.
Marie, die Regimentstochter, wurde von der jungen Katalanin Sara Blanch, einer Schülerin von Mariella Devia, gesungen. Ihr angenehmer lyrischer Sopran erwies sich als technisch sehr sattelfest. Dazu kam eine unbändige Spiellaune, die es ihr ebenso erlaubte, komisch zu sein (besonders gelungen die Gesangsstunde mit dem falschen Gequietsche im 2. Akt), als auch die Melancholie bei ihrem Abschied vom Regiment und die Verzweiflung wegen ihrer Trennung von Tonio zum Ausdruck zu bringen.
Diesen Tonio sang John Osborn, der vielleicht nicht die allerschönste Stimme der heutigen höhensicheren lyrischen Tenöre hat, aber welcher mühelose Schwung bei seinen Höhenflügen, wieviel Ausdruck im traurigen „Pour m’approcher de Marie“! Dazu spielte er sehr wendig seinen Übergang vom Dörfler zum Soldaten aus Liebe. Ganz köstlich war auch Paolo Bordogna, der mit großer Spiellust und gesundem Bariton den einmal verständnisvoll zwinkernden, dann wieder strengen Sulpice sang. Viel zur guten Unterhaltung trug Adriana Bignagni Lesca, eine in Frankreich ausgebildete Sängerin aus Gabun, als Marquise de Berkenfield bei, die sie mit sattem Mezzo umwerfend komisch gestaltete. Ihr zur Seite der Hortensius des Haris Andrianos, geboren in Australien, ausgebildet in Griechenland. Mimik und Körpersprache drückten perfekt die Leiden eines unterwürfigen Dieners aus. Die Duchesse de Krakenthorp war dankenswerterweise nicht mit einem Ex-Opernstar besetzt, sondern mit der Schauspielerin Cristina Bugatty, die viel aus der kleinen Rolle machte.
Das Orchestra Donizetti Opera unter der Stabführung von Michele Spotti spielte einen ausnehmend spritzigen Donizetti, der in dieser Opéra comique genau zeigt, wie er im französischen Stil zu komponieren vermochte, erinnert doch so manche flotte Stelle an Offenbach. Ausgezeichnet auch der von Salvo Sgrò einstudierte, spielfreudige Chor der Accademia Teatro alla Scala.
Zum ersten Mal nach langen Monaten sah ich ein vollbesetztes Haus, in dem ein dankbares Publikum den Künstlern mit Applausstürmen dankte.
MEDEA IN CORINTO
Teatro Sociale 4.12.
Mit diesem Werk sollte wieder einmal Donizettis Lehrer Johann Simon (Giovanni Simone) Mayr zu Wort kommen. Es war 1813 mit großem Erfolg in Neapel uraufgeführt worden. Als es 1821 in Bergamo, wo Mayr ja ansässig und Domorganist war, herauskommen sollte, musste der Komponist Änderungen vornehmen, schon weil das Teatro Sociale in der Città alta, der Oberstadt, viel kleiner war als das neapolitanische San Carlo und außerdem viel weniger finanzielle Mittel zur Verfügung hatte als das Theater der von einem König von Napoleons Gnaden regierten Stadt. Felice Romani, der Librettist der Oper, musste zum Beispiel neue Verse für den Chor schreiben, da es in Bergamo keine Chorsängerinnen gab und somit das weibliche Gefolge der Creusa ausfiel.
Da er schon an der Arbeit war und für letztere Rolle sowie für den Egeo gute Kräfte zur Verfügung standen, schrieb Mayr für diese Figuren je eine neue Arie und nahm andere Eingriffe wie die Zusammenlegung einiger Nebenrollen vor, sodass sich das Ergebnis der kritischen Ausgabe von Paolo Rossini wesentlich von der Komposition unterscheidet, die ich im Sommer 2015 in Martina Franca gehört und im Doppelheft jenes Jahres besprochen habe.
Regisseur Francesco Micheli, der sehr verdiente Leiter des Festivals, entschloss sich für eine Realisierung psychoanalytischer Natur, die gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts spielt. Der Verständlichkeit der Handlung ist das gar nicht gut bekommen, denn die Ebenen von Zeit und Ort werden ständig vermischt, außerdem sind die zwei (halbwüchsigen) Kinder Medeas und Jasons fast ständig auf der Bühne.
Der Ansatz, Medea mit einer aus dem dörflichen Süditalien in die Peripherie einer Großstadt im Norden versetzten Frau zu identifizieren, die mit dem neuen Leben nicht zurecht kommt, mag interessant sein, doch die Umsetzung war, wie erwähnt, eher wirr. Tiefenpsychologie kam auch bei Creusa zur Anwendung, die offenbar mehrmals von ihrem früheren Verlobten Egeo träumt. Eine zweifach vorhandene Bettstatt (Bühne: Edoardo Sanchi) wird mehrmals vom Schnürboden herabgesenkt und wieder hinaufgezogen, die Wohnküche der „Familie Jason“ erscheint mehrfach und daneben gleichzeitig die Welt der Reichen und Schönen, in der Creusa lebt. Wer den Mythos von Medea nicht kennt, kann der Handlung absolut nicht folgen, denn auch der vereitelte Raub der Creusa während der Hochzeitszeremonie mit Jason bleibt unklar. Dafür wird illustriert, wie sehr Jugendliche unter streitenden Eltern leiden – im Übrigen bleiben sie am Leben.
Wie so häufig bei von derartigen Gedanken faszinierten Regisseuren ist auch Micheli in der Lage, die Sänger schauspielerisch zu motivieren und ausgezeichnet zu führen. In den „heutigen“ Kostümen von Giada Masi spielt sich vor allem das Hauptpaar die Seele aus dem Leib: Medea wird von der jedes Jahr am Festival mitwirkenden Carmela Remigio hochintensiv interpretiert – dass der Text und ihr Fluch so gar nicht zu dieser Auslegung der Rolle passen, ist nicht ihre Schuld. Gesanglich hielt sie sich in dem nicht sehr großen Saal recht gut. Juan Francisco Gatell ist mit seiner lyrischen Stimme nicht die Idealbesetzung für die baritonal grundierte Tenorpartie des Jason, aber er schlug sich beachtlich und legte schauspielerisch eine filmreife Darstellung hin. Die Creusa von Marta Torbidoni ließ mit glasklaren Soprantönen und guter Beherrschung der Koloratur aufhorchen. Einen Qualitätstenor ließ der Italoamerikaner Michele Angelini hören, der mit der großen Arie des Egeo zurecht den stärksten Szenenapplaus einheimsen konnte.
Stimmlich eher farblos blieb Roberto Lorenzi als Creonte, während Caterina Di Tonno aus der hier zur Hausmeisterin degradierte Ismene, der Vertrauten Medeas, ein kleines Kabinettstück machte (etwa, wie sie aus einem Tischtuch das für Creusa bestimmte vergiftete Hemd schneiderte). Einen skurrilen Typ vertrat der Tenor Marcello Nardis als Tideo, hier in einer Portiersloge sitzend. Das Dirigat von Jonathan Brandani am Pult des Orchestra Donizetti Opera bemühte sich hörbar, die Diskrepanz zwischen der Regie und dem klassizistischen Werk nicht allzu offenbar werden zu lassen.
Ein eher ratlos wirkendes Publikum dankte den Interpreten für ihre musikalischen Leistungen.
L’ELISIR D’AMORE
Teatro Donizetti 5.12.
Dieses „melodramma giocoso“, der unsterbliche „Liebestrank“, war die dritte Oper des heurigen Festivals. Die Ankündigung von Frederic Wake-Walker als Regisseur ließ mich Schlimmes befürchten, hatte er an der Scala doch Mozarts „Nozze di Figaro“ schrecklich verunstaltet und vor kurzem in Florenz auch Cileas „Adriana Lecouvreur“ in den Sand gesetzt. Sich in der Geburtsstadt des dem Festival den Namen gebenden Komponisten zu befinden, hatte ihm aber offenbar gut getan, denn er ließ die Handlung im positiv routinierten Sinn ablaufen, ergänzt um einige nette Einfälle, wie z.B. das kleine Kasperletheater , in dem Adina und Dulcamara die Barkarole vom Senator Tredenti und der Nina gondoliera singen. Oder ein verträumter Nemorino mit Luftballon vor einem romantisch glitzernden blauen Vorhang bei der „Furtiva lagrima“. Oder die Kopfbedeckung à la Napoleon, als sich Nemorino zum Soldaten verpflichten lässt. Manchmal erscheinen die Hauptdarsteller als Kinder, aber der Einfall wirkt hier einmal nicht penetrant. Die Bühne beherrscht eine Abbildung der Fassade des Teatro Donizetti (Federica Parolini). Getragen wird hübsche, nicht nachlässig wirkende Alltagskleidung, und bei ihrer Werbung um Nemorino haben die Chordamen elegante große Hüte auf (Kostüme: Daniela Cernigliaro).
Das musikalisch Besondere an der Produktion war, dass das Orchestra Gli Originali spielte, das nur wirklich originale Instrumente verwendet, keine nachgebauten. Hinter dieser Entscheidung stand Dirigent Riccardo Frizza, der die kritische Ausgabe von Alberto Zedda leitete. Manches klang vielleicht weniger volltönend als gewohnt, war aber allemal noch spritzig genug. Auch der Coro Donizetti Opera in der Einstudierung von Fabio Tartari klang erfreulich homogen. Die zweite Abweichung vom Gewohnten gab es mit Adinas Schlussrondo, das Zedda im Anhang seiner kritischen Ausgabe veröffentlicht hatte. Es ist bedeutend schwieriger und koloraturgespickter als das Übliche. Es war interessant, diese Version einmal zu hören, doch ziehe ich die allgemein bekannte Fassung schon deshalb vor, weil sich die Bedeutung der Protagonisten zu Ungunsten von Nemorino verlagert.
Und an diesem Abend gab es mit Javier Camarena einen Nemorino der vokalen Spitzenklasse, der mit der Schönheit und Süße seines technisch so hervorragend gemeisterten Materials verzauberte. Dazu war er ein zwar naiver, aber nie tölpelhafter Anbeter Adinas, ein echter Sympathieträger.
Diese Adina in Gestalt der erst 21-jährigen Caterina Sala wusste sehr bald, was sie an ihm hatte und machte eigentlich nur aus Trotz mit der Geschichte der Heirat mit Belcore weiter. Sala stammt aus einer Musikerfamilie, in der alle singen, ihr Gesangslehrer ist ihr Vater. Sie sang ausgezeichnet und das erwähnte Finale mit solcher technischer Bravour, dass, wie man in Italien sagt, „veniva giù il teatro“ (= das Haus zusammenbrach). Ein hervorragender, urkomischer Belcore war der Franzose Florian Sempey, der mir schon vor ein paar Jahren in Pesaro als Figaro aufgefallen war. Es zeugt von der Intelligenz des jungen Mannes, dass er trotz seines schönen, ausladenden Materials noch nicht das ganz große Repertoire singt. Den Dulcamara legte Roberto Frontali seinem Naturell gemäß eher als gerissenen Geschäftsmann denn als Schlitzohr an, gefiel aber mit einer sehr guten gesanglichen Leistung. Anaïs Mejias aus Puertorico als Giannetta wollte offenbar nicht im Schatten ihrer Freundin Adina stehen und trompetete bei den Chorstellen etwas gar stark.
Eingeleitet wurde die Vorstellung von einem Zeremonienmeister namens Manuel Ferreira. Der Argentinier forderte das Publikum auf, die Eröffnung des 2. Akts mit dem Chor „Cantiano, facciam brindisi…“ zu proben. Das klappte nach ein paar Anläufen sehr gut, und als sich der Vorhang zum 2. Akt hob, sang das Publikum mit den Profichoristen und schwenkte dazu die Fähnchen, die es beim Eintritt ins Theater erhalten hatte. Was ich in einem anderen Zusammenhang als populistisch bezeichnet hätte, trieb mir hier die Tränen der Rührung in die Augen: Ein übervolles Haus glücklicher Opernliebhaber begrüßte einen Neuanfang. (Mit dieser Zeremonie hatte das Festival begonnen, und man wollte es offenbar den Besuchern dieser letzten Vorstellung nicht vorenthalten). Ein großer Dank an alle!
Eva Pleus 20.12.21
Bilder: Gianfranco Rota