Aachen: „Trouble in Tahiti / A Quiet Place“

Leonard Bernstein

Premiere: 10.02.2019

Besuchte Vorstellung: 16.02.2019

Packendes Familiendrama

Dem Theater Aachen gelingt in dieser Spielzeit nach dem furiosen Händelspektakel vor wenigen Monaten mit einer weiteren Produktion, die eher selten den Weg auf die Spielpläne der Opernhäuser schafft, erneut ein echter Coup: Mit dem Doppelabend „A Quiet Place / Trouble in Tahiti“ zollt man dem Komponisten Leonard Bernstein Tribut und präsentiert packendes Musiktheater vom Feinsten.

Auch wenn der Titel an Südsee und Urlaubsidyll denken lassen mag, so ist das, was da auf der Bühne passiert ein packendes Spiel familiärer Abgründe und zwischenmenschlicher Getriebenheit. So referiert der Titel „Trouble in Tahiti“ auf den Titel eines Films, den sich Protagonistin Dinah im Kino ansieht, um sich aus der Enge ihrer Ehe in eine heile Traumwelt zu flüchten. Bernstein schrieb den Einakter 1952 und siedelte ihn im Milieu amerikanischer Kleinstädter der Zeit an. Dieses Werk integrierte er schließlich 1984 als eine Art Rückblende in „A Quiet Place“, in dessen Mittelpunkt die Beerdigung Dinahs und damit das Zusammenkommen der Familie zum Abschiednehmen steht. Das ist nicht nur dramaturgisch interessant, auch musikalisch hört man Bemerkenswertes: Gerade letzteres Werk zeigt Bernstein als reifen, der Avantgarde zugewandten Komponisten, der sich zwar den fließenden Melodien und fetzigen Rhythmen nicht verschließt, aber eine musikalisch packende und freitönende Klammer, um das frühere, deutlich melodiösere Werk, das durchaus auch mit Jazz und Swing daherkommt, legt.

Die Entwicklung der Handlung ist dabei besonders spannend. Sehen wir in „Trouble in Tahiti“ das Ehepaar Dinah und Sam, dass zur gemeinsamen Harmonie nur durch die Flucht in Phantasiewelten findet, dagegen in der Realität bereits beim Frühstück in Streit gerät, so sehen wir in „A Quiet Place“ wie sich diese Familie weiterentwickelt hat. Old Sam sitzt neben der aufgebahrten Dinah und die Kinder sind zu Gast: Tochter Dede bringt ihren Mann Francois mit, mit dem aber ihr homosexueller Bruder Junior anbandelt. Was etwas eigenwillig klingt, wir auf der Bühne aber zu einem spannenden Spiel von Zuneigung und Abweisung, von Fürsorge und Missgunst und der Aufarbeitung familiärer Beziehungen.

Regisseurin Nina Russi, die sich mit diesem Doppelabend erstmals dem Aachener Publikum präsentiert, gelingt eine so unglaublich feingliedrige und auf den Punkt gebrachte Inszenierung, dass man dem dramatischen Geschehen auf der Bühne gebannt folgt. Wie unter einem Mikroskop seziert sie das familiäre Miteinander und das Gefühlsleben ihrer Protagonisten. Dabei zeichnet sie starke Bilder, die mal beklemmen und dann wieder zutiefst berühren. Mathis Neidhard konstruiert hierzu eine raffinierte Drehbühne, die die Wohnung der Familie fast labyrinthartig eng erscheinen lässt, die der emotionalen Enge auch eine räumliche Enge zuordnet. Flexibel und mit viel Liebe zum Detail entstehen hier neue und stimmige Raumsituationen. Die Kostüme von Annemarie Bulla unterstreichen die jeweilige Handlungszeit und runden die von der Regie gezeichneten Charaktere optisch stimmig ab.

Letztlich sind es aber die Darsteller, die in packender Spielweise und musikalisch exzellent den Abend zum Ereignis werden lassen. Wieland Satter überzeugt als Old Sam mit markanter Stimme und feinem und emotionalem Spiel. Sein jüngeres Alter Ego wird von Ronan Collett gegeben, der – trotz Ansage als gesundheitlich angeschlagen – szenisch wie stimmlich keine Wünsche offenlässt. Als junge Dinah steht ihm Fanny Lustaud zur Seite. Voller Kraft im Streiten, voller Seele im sehnsuchtsvollen Träumen in die Idylle, liefert die Sängerin hier ein vielschichtiges und sehr differenziertes Rollenportrait ab. Für die erkrankte Katharina Hagopian als Dede sprang in der besuchten Vorstellung singend Evmorfia Metaxaki ein, die von der Seite die Partie klangschön und souverän interpretierte, während Regieassistentin Clara Hinterberger auf der Bühne souverän agierte. Eine zweckdienliche Lösung, die dem Abend keinerlei Abbruch tat. Wohl eine der bemerkenswertesten Figuren des Abends ist die Partie des Junior, die der junge belgische Bariton Fabio Lesuisse perfekt verkörpert. Hier haben Regisseurin und Darsteller ein Rollenportrait erarbeitet, dass zutiefst bewegt, erschüttert und mitfühlen lässt. Lesuisse zeichnet den homosexuellen Junior ohne übertriebene Affektiertheit, wohl aber mit einer subtilen Extravaganz, mit dem Willen zum Rebellieren und der Fähigkeit in Stimmungsschwankungen zu verfallen, die in ihrer emotionalen Abgründigkeit dem Zuschauer die Tränen in die Augen treiben. Dazu überzeugt Lesuisse mit einem klangschönen Bariton und exzellenter Textverständlichkeit.

Die zahlreichen kleinen Rollen, sowie die Umsetzung des überschaubaren Chorparts ergänzen das Gesamtbild einer hervorragenden musikalischen Vorstellung. Das Symphonieorchester Aachen spielt unter Leitung seines Generalmusikdirektors Christopher Ward in einer eher kleinen Besetzung, die aber um einen enormen Schlagwerk-Apparat ergänzt ist. Kraftvoll geht Ward in die Partitur, wobei manches Fortissimo ein wenig ins Schrille driftet, im großen Ganzen aber liefert er mit allen Beteiligten einen packenden Bernstein. Alle Musiker schaffen es in beeindruckender Art und Weise die vielseitige Musik zwischen atonalen Momenten, fetzigem Swing und arioser Oper mitreißend zu musizieren.

Der Abend vermag so in eigentlich allen Bereichen zu überzeugen und ist ein weiteres Beispiel dafür, dass der Blick in die Spielpläne der Häuser abseits der Zentren absolut lohnend ist.

Sebastian Jacobs 18.2.2019

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