Bonn: „Elektra“

Besuchte Vorstellung: 23.03.2019

Auf dem Müllberg der Geschichte

Man mag es sich kaum vorstellen, dass es Richard Strauss selbst war, der zunächst Bedenken hatte den Elektra-Stoff anzugehen. Viel zu groß war seine Sorge, dass der Furor der weiblichen Hauptfigur zu sehr dem seiner „Salome“ ähneln könne. Hofmannsthal mühte sich immer wieder diese Sorge zu zerstreuen, man arbeitete Szenen der Vorlage um, diskutierte, Strauss sah sich die Bühnenfassung (u.a. mit Getrud Eysoldt) an und war letztendlich überzeugt. Nach einer der ersten Aufführungen konstatierte er: Jedoch der Wunsch, dieses dämonische, ekstatische Griechentum (…) Goethe’scher Humanität entgegenzustellen, gewann das Übergewicht über die Bedenken, und so ist Elektra sogar noch eine Steigerung geworden in der Geschlossenheit des Aufbaus, in der Gewalt der Steigerungen, – und ich möchte fast sagen: sie verhält sich zu Salome wie der vollendete stileinheitlichere Lohengrin zum genialen Erstlingswurf des Tannhäuser.

Heute kann man diese Sorgen fast nicht verstehen, haben doch beide Strauss’schen Werke ihre festen Plätze in de Repertoires der Opernhäuser gefunden: Die Elektra so aktuell auch wieder in Bonn.

Schon beim Betreten des Saals – der Vorhang ist bereits geöffnet – fällt das aufwändige von Etienne Plus entworfene Bühnenbild auf. Wir sehen das Treppenhaus eines Palastes. Massive Säulen, eine ausladende Treppe, Leuchtkörper und Kronleuchter, die in ihrer Ästhetik einen dezenten Hinweis auf das frühe 20. Jahrhundert geben. Ob es wirklich der Palast eines Herrschers ist, oder das Domizil einer Industriellendynastie wie beispielsweise die Villa Hügel der Krupps bleibt offen. Jedoch ist die eigentlich repräsentative Halle von einer Müllhalde übersät. Vermutlich sind es die Habseligkeiten und Hinterlassenschaften Agamemnons. Zwischen ihnen haust Elektra und ist dort, mehr oder weniger dem Wahnsinn verfallen, als schmuddeliger Messi angesiedelt, der im klaren Gegensatz zur Glitzerwelt der Klytemnestra steht, die in der oberen, nicht sichtbaren Etage des Palastes verortet ist. Das Restriktive ihrer Herrschaft spiegelt sich auch in den Kostümen (Bianca Deigner) wieder: Weinroter Kunstlederdress, bei den Mägden kombiniert mit grauen Blusen, bei der Aufseherin komplett in Leder und körperbetont, lassen die Diener zu einer Art Lageraufseher werden.

Der inszenatorische Ansatz, dass Elektra über die Habseligkeiten des Vaters wacht, die für die sie umgebende Welt nur noch Müll sind, ist sicherlich gut gedacht. Das wird einmal sinnfälliger, steht dieses Wegwerfen von menschlichem Hab und Gut im Kontrast zu der Wuchtigkeit und der Beständigkeit des Ortes, in dem sich die Tragödien und somit das Wegwerfen und auf den Müll kippen scheinbar immer wiederholt (so landen auch Klytemnestras und Aegisths Habseligkeiten auf dem Müllberg, in dem Elektra schließlich untergeht). So ist Enrico Lübbes Inszenierung in ihrer Gesamtheit zwar kein Ärgernis, aber ein großer Wurf ist sie auch nicht. Die Personenführung ist solide und nah am Text, die Grundüberlegung und das Setting sind nachvollziehbar, aber dann kommen ein paar wenige Regieeinfälle, wie etwa eine Horde Statisten, die mit Beil über die Bühne laufen und wohl dem Wahn Elektras entstammen, die es einfach nicht braucht.

Der Abend lebt letztendlich durch eine atmosphärische Dichte, die ein phänomenales Ensemble spielerisch, wie musikalisch erschafft. Allen voran ist die estnische Sopranistin Aile Assonyi in der Titelpartie zu nennen, die eine unglaubliche Leistung abliefert. Im Spiel mitreißen, im Gesang eine Wucht meistert sie die Strauss’sche Höllenpartie souverän und in allem so intensiv, dass dem Zuschauer nicht nur einmal ein Schauer über den Rücken läuft. In den Piani vielleicht manchmal ein bisschen zu dezent, vermag sie aber gerade in den groß instrumentierten Passagen mit viel Strahlkraft in der Stimme sich mühelos über das Orchester hinwegzusetzen. Als Elektras Schwester Chrysothemis steht Manuela Uhl auf der Bühne, die diese Partie mit jugendlicher Leichtigkeit, mit einer gewissen Zartheit im Spiel anlegt, stimmlich aber dann doch mit der nötigen Dramatik überzeugt. Als Klytemnestra überzeugt Nicole Piccolomini, die in hautenger goldener Glitzerrobe, eine wirklich menschlich widerwärtige Herrschermörderin gibt (und das sei in diesem Kontext absolut als Kompliment zu verstehen!). Ihre Stimme ist gerade in den Tiefen von einer Glut getragen, die der Partie wunderbar zu Gesicht steht. Die Partie des Orest wird von Martin Tzonev gesungen, der den Heimkehrer mit viel Düsternis in Spiel und Stimme umzusetzen vermag. Als Aegisth überzeugt Johannes Mertes, der mit viel Strahlkraft in der Stimme den szenisch recht schmierig anlegten Geliebten Klytemnestras gibt. Die kleinen Partien sind in ihrer Leistung recht durchwachsen besetzt: So überzeugen die fünf Mägde (Susanne Blattert, Anjara I. Bartz, Rose Weissgerber, Charlotte Quadt und Louise Kemény) mit quirligem Spiel und musikalischer Akkuratesse absolut. Solide Leistungen in ihren kurzen Partien zeigen: Katrin Stösel als Schleppträgerin, Ji Young Mennekes als Vertraute, Algis Lunskis als alter Diener und Egbert Herold als Pfleger des Orest. Jeanette Katzer als Aufseherin bleibt stimmlich sehr dezent und erzeugt so einen Widerspruch zu der durch ihr Kostüm forcierten Brutalität. Jae Hoon Jung als junger Diener war bereits in der sechsten Reihe nicht mehr zu hören und fiel so deutlich aus dem Rahmen eines ansonsten musikalisch umwerfenden Abends.

Dass dieser Abend so eine musikalische Glanzleistung wurde, liegt nicht zuletzt an der exzellenten Leistung des Bonner Beethovenorchesters unter der Leitung von Dirk Kaftan. Der Dirigent musiziert einen wirklich exzellenten Strauss, der zwischen dröhnender Wuchtigkeit und schwelgerischem Musizieren der großen Bögen, zwischen Schroffheit und Lyrischem immer wieder neu differenziert wird. Exaktheit und eine hervorragende Ausgewogenheit zwischen Bühne und Graben machen diese Elektra auf der musikalischen Seite zu einer wahren Freude.

Am Ende des Abends ist das Publikum im nahezu ausverkauften Bonner Opernhaus regelrecht aus dem Häuschen. Phrenetischer Beifall für die Protagonisten, Dirigent und Orchester lassen einen wirklich beeindruckenden Opernabend enden.

Sebastian Jacobs 24.3.2019