Erfurt: „Die Zauberin“, Peter I. Tschaikowski

Premiere: 2. 6. 2012 – Besuchte Aufführung: 2. 12. 2012

Sommernachtstraum und Teufels-Varieté

Am Erfurter Theater ging am Nachmittag des 2. 12. 2012 die Derniere von Tschaikowskys selten gespielter, 1887 in St. Petersburg erstmals aufgeführ- ter Oper „Die Zauberin“ über die Bühne. Angesichts des Raritätencharakters des Stückes seien mir einige Worte zum Inhalt erlaubt: Die junge Witwe Nastasia ist Inhaberin einer Gastwirtschaft im Außenbereich einer russischen Stadt. Bei ihr trifft sich regelmäßig eine bunte Gesellschaft. Mamyrov, der intrigante Schreiber des Fürsten Nikita, unterstellt ihr unmoralisches Handeln und bezichtigt sie der Zauberei. Es gelingt ihm, den Fürsten zu einem Kon- trollbesuch in der Schenke zu bewegen. Der Schuss geht jedoch nach hinten los: Nikita verliebt sich in Nastasia und Mamyrov fällt der Lächerlichkeit anheim. Im Folgenden versteht letzterer es ausgezeichnet, die Eifersucht der Fürstin anzuheizen. Ihr Gatte ist der Wirtin gnadenlos verfallen und versucht sie gegen ihren Willen zur Liebe zu zwingen. Sie liebt aber den Sohn des Fürstenpaares, Juri. Dieser verfügt über eine sehr soziale Ader. Nachdem er sich für ungerecht behandelte Bürger eingesetzt hat, fällt er bei seinen Eltern in Ungnade und überredet Nastasia, mit ihm zu fliehen. Sie können aber ihrem tragischen Ende nicht entkommen. Nastasia fällt einem Giftan- schlag der Fürstin zum Opfer. Nikita tötet in blinder Eifersucht den eigenen Sohn und verfällt daraufhin dem Wahnsinn.

Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass diese überaus gelungene Produktion, die in Kooperation mit den Opernhäusern in Antwerpen und Gent entstand, als Aushängeschild des Erfurter Theaters gelten kann. Wieder einmal ist Tatjana Gürbaca, die seit letzter Spielzeit das Amt der Operndirektorin am Staatstheater Mainz bekleidet, eine sehr spannende und atmosphärisch äußerst dichte Inszenierung in packenden, von Klaus Grünberg stammenden Bildern gelungen. Aber dergleichen ist man von ihr ja gewohnt. Das war ein Musterbeispiel in Sachen aufregendes Musiktheater, zu der man der jungen Regisseurin nur herzlichst gratulieren kann. Dass der Nachmittag wie im Fluge verging, verdankte sich nicht zuletzt der ausge- feilten, stringenten Personenregie sowie Frau Gürbacas ausgeprägten Fähig- keiten bei der Formung der Charaktere. Auch in der geistigen Durchdringung der Oper bewies sie großes Können. Ihre vollauf gelungene Inszenierung weist enorme politische und gesellschaftskritische Brisanz auf. Mit großem Einfühlungsvermögen zeigt sie das Scheitern der jungen Generation an der älteren auf und macht deutlich, dass Politik sowohl im Großen als auch im Kleinem stattfindet. Politische und private Konflikte sind untrennbar mitein- ander verbunden. Die Familie sieht sie als Keimzelle aller Staatspolitik und lässt keinen Zweifel daran, dass in der Führungsschicht ein Nichtfunk- tionieren der Familienmitglieder untereinander, was hier durch den stück- immanenten Vater-Sohn-Konflikt nur allzu offenkundig wird, auch den Staat ins Verderben stürzen muss.

Dieser erhält in Frau Gürbacas Interpretation eine ausgesprochen negative Prägung. Nikita ist der Herrschaft müde, denkt augenscheinlich daran abzudanken und überträgt viele seiner Herrschaftsbefugnisse einer korrupten Ministerliga, die sich darin gefällt, das Volk zu unterdrücken. Daran, dass diese auch unter der Herrschaft Juris das Zepter in der Hand behalten würde, kann bei Frau Gürbaca kein Zweifel bestehen. Der junge Fürstensohn wird von ihr als ziemlich schwacher Charakter vorgeführt, der gänzlich unter dem Pantoffel seiner Margarethe Thatcher nachempfundenen Mutter steht und sich zudem in keinster Weise gegen den Minister Mamyrov durchsetzen kann. Kein Wunder, dass seine Eltern ihn nicht auf dem Thron sehen wollen. Auch die Regisseurin zweifelt stark an seiner Fähigkeit, das Land zu regieren, und setzt hinter seine Führungsqualitäten ein deutliches Fragezeichen. Wo die Staatsspitze sich aber schwach zeigt, ist Intriganten, Verrätern und Emporkömmlingen Tür und Tor geöffnet. Alle diese Eigen- schaften vereinen sich in Mamyrov, der hier indes nicht nur negativ gezeich- net wird. Einfühlsam gewinnt ihm Tatjana Gürbaca auch menschliche Seiten ab. Seine Opposition gegen die Herrscherfamilie entspringt extremer öffentlicher Demütigung und erscheint als eine Art Trotzreaktion fast verständlich.

Unter diesen Voraussetzungen gärt es in dem geknechteten Volk, machen sich revolutionäre Umtriebe breit. Nachhaltig entwickelt sich eine Gegen- gesellschaft zu der fragwürdigen Führungsschicht, die sich zu Beginn in Nastasias mit Bierkisten, Werktisch, Leiter, Taube und Fahne ausgestattetem Schenke, einem Kachelraum mit graffitiverschmierten Wänden, trifft. Es ist schon eine seltsame Ansammlung verschiedenartigster politikverdrossener und teilweise etwas verrückt wirkenden Gestalten, die sich da auf engstem Raum eingepfercht ein Stelldichein gibt. Die Gastwirtschaft mutiert zur Keimzelle der Revolution, wobei die Aufständischen den verschiedensten Spezies angehören. Das wird insbesondere an den Kostümen von Marc Weeger und Silke Willrett deutlich, die eine enorme Vielfalt aufweisen und sowohl ins Deutschland der 68er Generation zielen als auch sowjetische und postsowjetische Anklänge aufweisen.

Buntschillernde Gewänder korrespondieren mit totaler Nacktheit, menschliche Befindlichkeiten mit tierischen Trieben. So erscheint u. A. als Sinnbild des typischen Russen ein Eisbär auf der Bühne. Teilweise hat man seine sieben Sinne noch zusammen, teilweise hängt man an der Flasche und frönt dem Wodka. Das einigende Verbindungsglied in diesem bunt zusam- mengewürfelten Haufen ist Nastasia. Im Folgenden wechseln die Schau- plätze. Frau Gürbaca erteilt jeder linearen Erzählweise eine klare Absage und lässt jeden Akt in einem neuen Bild spielen, wobei sie indes zeitweilig mit lockerer Hand einige bildliche Motive aus den vorhergehenden Aufzügen zitiert. So wird in der Revolutionsszene das Ambiente des ersten Aktes erneut heraufbeschworen, und der Arbeitstisch der Fürstin aus dem eisige Kälte versprühenden zweiten Akt ziert auch Nastasias ebenfalls reichlich nüchtern anmutende und im wahrsten Sinn des Wortes abgehobene Mait- ressenwohnung, die am Ende des dritten Aufzuges auf einmal in eine bedenkliche Schieflage gerät. Der tragische Ausgang des Geschehens wird so bereits unmissverständlich angedeutet. Die ausgeprägte erzählerische Spannung, die bereits bis dahin das Geschehen prägte, erreichte im vierten Akt dann ihren Höhepunkt. Hier hat die Regisseurin die Handlung kurzer- hand aus dem Wald in ein vom Satan persönlich initiiertes Varieté mit tödlichem Ausgang verlegt und dem Ganzen dazu noch äußerst geschickt einen hoch brillanten, sommernachts(alp)traumartigen Anstrich Shake- spear’scher Prägung gegeben. Das war eine ganz ausgezeichnete und höchst stimmungsvolle Mischung, die ihre Wirkung nicht verfehlte.

Nicht unerwähnt darf bleiben, dass dieser geniale Schachzug der Regisseurin sich mit der Musik in diesem Akt ganz ausgezeichnet vertragen hat, was sonst bei regiebedingten Modernisierungen eher selten ist. Einen unge- meinen starken Eindruck hinterließ auch die Szene, in der sich der vordem als Priester vorgeführte Vagabund Paisi, dessen Rolle hier mit der des Zauberers Kudma zu einer Partie verbunden wird, seine Maske ablegt und in ein rotes Teufelsgewand schlüpft. Offenbar wird, dass dieser nicht unko- misch auftretende Mephisto es war, der die ganze Zeit über die Fäden des Geschehens in der Hand hielt und als ausgemachter Dämon alle Handlungs- träger planmäßig ins Verderben lenkte. Gleichzeitig wartet Tatjana Gürbaca hier mit einem berechtigten Seitenhieb auf die Katholische Kirche auf, in deren Namen über die Jahrhunderte hinweg immer wieder schreck- liche Verbrechen begangen wurden, man denke nur an die Kreuzzüge und die Inquisition. In böser Absicht stellt der Geist, der stets verneint, Nastasias guten Taten deren Kehrseite gegenüber. Die Quintessenz lautet: Alle Hand- lungen, egal ob gut oder schlecht, fallen irgendwann auf uns selbst zurück. Deshalb sollte man sich sein Tun immer gut überlegen. Das war alles sehr überzeugend und mit hohem technischem Können umgesetzt. Aber dass Tatjana Gürbaca einer der hellsten Sterne am Regiehimmel ist, hat man ja schon lange gewusst. Eine Übernahme dieser überaus gelungenen Produk- tion nach Mainz wäre sehr zu wünschen.

Ansprechend war die musikalische Seite der Aufführung. Johannes Pell und das beherzt aufspielende Philharmonische Orchester Erfurt erzeugten einen abwechslungsreichen, facettenreichen Klangteppich, der die verschiedensten Stilelemente aufwies. Auf Differenzierung und farbliche Vielfältigkeit verstand sich der Dirigent gut. Einfühlsam führte er die lodernde Dramatik des vierten Aktes, die Verdi angeglichenen großen emotionalen Ausbrüche des dritten Aufzuges und die russischen Folklore- elemente des ersten Bildes zu einer gelungenen Einheit.

Insgesamt zufrieden sein konnte man auch mit den gesanglichen Lei- stungen. Ilia Papandreou war eine sich ihrer erotischen Ausstrahlung durchaus bewusste und diese geschickt einsetzende und mit ausgeprägtem Kalkül ihre Ziele verfolgende Nastasia, die sie mit ihrem bestens focus- sierten, klang- und obertonreichen Sopran italienischer Schulung auch hervorragend sang. In der Fürstin Romanovna stand ihr in Olga Savova eine Gegenspielerin zur Seite, die mit bestens verankertem, ausdrucks- starkem und dramatischem Mezzosopran ihre Partie zwar ausgezeichnet sang, aber darstellerisch etwas linkisch wirkte. Eine Glanzleistung erbrachte Juri Batukov, der mit kernigem und fulminant eingesetztem, bestens gestütztem Bariton und intensivem Spiel dem Fürsten Nikita ein glaubhaftes Profil verlieh. Tadelloses profundes Bassmaterial brachte Vazgen Ghaza- ryan für den Mamyrov mit, dem er schauspielerisch in Einklang mit der Regie eine recht menschliche Note verlieh. Das hohe Niveau seiner Mit- streiter erreichte Markus Petsch in der Rolle des Prinzen Juri nicht ganz. Darstellerisch schlug er sich wacker, wartete aber mit einem variablen Stimmsitz auf. An vielen Stellen saß sein Tenor vorbildlich im Körper. Andererseits gab es aber insbesondere in der Höhe auch Passagen, in denen er die nötige Körperstütze aufgab, woraus ein recht dünner Klang resul- tierte. Rein äußerlich und schauspielerisch erstklassig präsentierte sich Jörg Rathmann als Teufel Paisi, vermochte aber stimmlich mit seinem äußerst flachen Tenor überhaupt nicht zu überzeugen. Das gilt auch für Marwan Shamiyeh s Kaufmann. Solides Mezzomaterial brachte Yunfei Lu in die Partie der Nenila ein. Stimmkräftig präsentierten sich Sebastian Pilgrim (Foka) und Dario Süß (Faustkämpfer). Nils Stäfe, Yoontaek Rhim und Reinhard Becker rundeten als Zuran, Potap und Lukasch das Ensemble ab. Auf hohem Niveau bewegte sich die Leistung des von Andreas Ketelhut perfekt einstudierten Chors.

Ludwig Steinbach / 4. 12.2012
Photos: Lutz Edelhoff.