Im ehemaligen Malersaal des TfN, jetzt ein intimer Raum mit ca. 150 Plätzen und einer kleinen Bühne, gab es am 27.9. eine spannende Premiere des Chanson-Musicals nach dem Roman von Irmgard Keun im Beisein ihrer Tochter, die vom Intendanten freudig begrüßt wurde. Die Schriftstellerin wurde 1905 in Berlin geboren und wuchs seit der Schulzeit in Köln auf. Nach ihrem ersten Roman Gilgi – eine von uns im Jahr 1931 kam ein Jahr später Das kunstseidene Mädchen heraus; der Film nahm sich beider Werke sofort an, aber bereits 1933 wurden sie verboten, weil die Thematik nicht dem Bild der „deutschen Frau“ im Nationalsozialismus entsprach. Die Autorin lebte in der Folgezeit ab 1936 in Belgien, Frankreich, Holland und in den USA. Allerdings kam sie 1940 illegal nach Deutschland zurück. Nach Kriegsende arbeitete sie circa 30 Jahre unauffällig für Rundfunk und Kabarett; derzeit blieben eigene literarische Versuche erfolglos. Erst 1977 wurden ihre ersten beiden Romane wiederentdeckt, die nun zu spätem Erfolg und 1981 zu dem Marieluise-Fleißer-Preis führten. 1982 verstarb Irmgard Keun in Köln. Erst 2014 kam es am Renaissance-Theater Berlin zu der Uraufführung der Musical-Fassung, die von Rainer Bielfeldt (Musik) und Carsten Golbeck (Buch und Gesangstexte) erstellt wurde.
In diesem Stück geht es um eine junge Frau, Doris, die aus ihrem bisherigen einfachen Leben mit schlechten Erfahrungen mit Männern im Westen ausbricht und in Berlin ihren Träumen vom Erfolg als Schauspielerin nachjagt. Einige Episoden werden teils kürzer, teils länger lebhaft ausgemalt, bis sie zu der Erkenntnis kommt, dass das echte Leben doch ganz anders sein kann. Der Regisseurin Melanie Schweinberger ist eine wundervoll lebendige Inszenierung in der kleinen Spielstätte gelungen, indem sie die Reiselust der jungen Frau als Aufhänger nahm. Doris geht also auf Fahrt mit einem großen, von der Ausstatterin Beata Kornatowska im Inneren detailfreudig ausgestalteten Schrankkoffer, aus dessen Fächern sie ihr bisheriges Leben nach und nach hervorholt. Auch in der bis ins Detail treffenden Kleidung spiegelt sich der Anfang der 30-iger Jahre wider, von der typischen Frisur über den seidenen Unterrock bis zu Seidenstrümpfen mit Naht bei Doris sowie Knickerbocker und Schlagmütze für Conrad. Diese Figur ist eine extra geschaffene Rolle, in der der versierte Pianist Andreas Unsicker auch als Stichwort-Geber fungiert, eine sehr gute Idee der Regisseurin, die der Protagonistin Katharina Wollmann auch minimale Atempausen in der gut zwei Stunden dauernden Vorstellung gönnt.
Die Musical-Spezialistin erfüllte diesen Part bravourös. Ihre Songs bekamen zu Recht jeweils spontan Zwischenapplaus; einer der Höhepunkte war die intensive Szene vor der Pause mit Ich wurde ein lachendes Weinen nach der Erkenntnis: „Großindustrie und Politik vergiftet menschliche Gefühle“. Herrlich witzig war die Szene mit dem Lied der Kurse über Fortbildungsangebote, das darin gipfelte, dass sie ihre Lieblingsbeschäftigungen wie Kochen, Putzen, Betten beziehen etc. aufzählte mit dem Ergebnis „aber arbeiten will ich nicht“. Mit ausgefeilter Mimik, starker Körpersprache und unendlich viel Text, zog sie die Zuhörer schnell in ihren Bann, so dass man auch das meiste von den sehr leise gesprochenen Textstellen mitbekam. In diesem intimen Rahmen ist es ein absolutes No-go, zu spät kommende Zuschauer noch nach ca.20 Minuten in die Vorstellung einzulassen! Toll, wie gelassen die beiden Akteure das einfach übergingen und sich nicht davon stören ließen.
Begeisterter, lang anhaltender Applaus für die beiden Künstler und das Regieteam beendete den fesselnden Premierenabend.
Marion Eckels, 28. September 2024
Das kunstseidene Mädchen
Chanson-Musical von Rainer Bielfeldt
Hildesheim – Theater für Niedersachsen (TfN)
Premiere am 27. September 2024
Inszenierung: Melanie Schweinberger
Musikalische Leitung: Andreas Unsicker
Weitere Vorstellungen: 2. ,9., 27. Oktober, 18. November, 8., 29. Dezember 2024 und öfter