Hagen: „Cardillac“, Paul Hindemith

Premiere: 21.09.2019, besuchte Vorstellung: 10.11.2019

Ode an das Manifest

Lieber Opernfreund-Freund,

Paul Hindemiths erste abendfüllende Oper Cardillac ist derzeit am Theater Hagen zu erleben. Das höchst expressionistische Werk beeindruckt mit seiner Klangfülle, die Sängerriege vollbringt schier Unmögliches – doch die Inszenierung von Jochen Biganzoli beschäftigt sich kaum mit der Geschichte, die auf der Novelle Das Fräulein von Scuderi von E.T.A. Hoffman beruht, sondern verliert sich in einer Flut von Manifestationen und gerät so zum Selbstzweck.

Das Fräulein von Scuderi von E.T.A. Hoffmann ist gerne und oft Schullektüre und vielleicht ist es auch Ihnen, lieber Opernfreund-Freund, als Pennäler einmal begegnet. Doch will ich zumindest den Teil der Handlung, der in Paul Hindemiths Cardillac Verwendung findet, kurz umreißen: Im Paris der 1680er Jahre treibt ein Serienmörder sein Unwesen, der des nachts Kunden auflauert, die kurz zuvor beim angesehenen Goldschmied Cardiallac Schmuck erworben hatten, diese umbringt und das Schmuckstück raubt. Keiner ahnt, dass Cardillac selbst der Täter ist, da er sich nicht von den von ihm geschaffenen Stücken trennen kann. Als ein Offizier, der um seine Tochter wirbt, eine Kette bei ihm erwirbt, überfällt ihr auch diesen und verwundet ihn. Ein Goldhändler hat den Vorfall beobachtet und bezichtigt Cardillac des Verbrechens. Der Offizier behauptet jedoch, vom Goldhändler überfallen worden zu sein, offenbart aber Cardillacs Tochter den wahren Täter. Die sagt sich von ihrem Vater los und der gesteht im Wahn der ihn eigentlich feiernden Menge, dass er selbst der Mörder ist. Der aufgebrachte Mob erschlägt ihn daraufhin.

„Die Musik hat mit der Romantik des Stoffes, mit der Gefühlswärme und so weiter, so gut wie nichts zu tun.“ schrieben Zeitungen nach der Dresdner Uraufführung 1926 und ähnliches könnte man von der Hagener Inszenierung behaupten. Sicher geht es in Cardillac auch um den Trennungsschmerz, den ein Künstler von seinem Werk empfindet – Jochen Biganzoli reduziert allerdings seine gesamte Inszenierung auf diese thematische Verbindung und nutzt die Produktion, um sich grundsätzlich mit der Frage, welchen Wert Kunst hat, ob Kunst Ware sein darf und was Kunst überhaupt sein muss, zu beschäftigen. Dazu lässt er auf der leeren Bühne von Wolf Gutjahr die rundum angebrachten Prospekte mit allerhand Text anstrahlen. Mal handelt es sich um kurze Statements wie „Art must be beautiful“, mal sind es Auszüge aus einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dann wieder darf das Publikum minutenlang Auszüge aus E.T.A. Hoffmanns Novelle mitlesen. Sicher ist die Frage nach dem Wert der Kunst heute diskussionswürdiger denn je, die bloße Aneinanderreihung von plakativen Aussagen und Forderungen allerdings verkopfen Hindemiths Werk über Gebühr. Die schroffe, energiegeladene Musiksprache des Komponisten spiegeln aus Hoffmans Erzählung vor allem die Gefühlswelt der Titelfigur wider – außer Cardillac trägt keine der übrigen Figuren überhaupt einen Namen – und mit der beschäftigt sich Biganzoli inhaltlich so gut wie gar nicht, sondern verliert sich in Konsum- und Kulturpolitikkritik. So formuliert die letzte Projektion „Wozu Kunst“, die nach de Apotheose der Titelfigur, als die Jochen Biganzoli den abschließenden Mord inszeniert, in großen Lettern erscheint, genau die Frage, die sich mir am Ende der Aufführung stellt.

Fast könnte es Teil der Inszenierung sein, dass ein Theatersprecher vor der Vorstellung vor den Vorhang tritt und erzählt, dass aufgrund der Sparzwänge, die man dem Theater Hagen auferlegt hat, verstärkt mit externen Musikern gearbeitet werden müsse und dass just der engagierte Tubaspieler das Theater nicht rechtzeitig erreichen könnte, weshalb am gestrigen Nachmittag das Werk ohne Tuba aufgeführt werde. Doch tut das dem musikalisch hervorragenden Gesamteindruck keinen Abbruch, führt doch GMD Joseph Trafton versiert durch die klanggewaltige, teils spröde, höchst spannende und keine Sekunde langweilige Partitur. Zwar muss in der Mitte des Werkes, das in Hagen in der 1926er Urfassung erklingt (Hindemith hatte es 1952 nochmals in eine vieraktige Fassung gegossen), eine Passage wiederholt werden, doch ist das angesichts der hohen Komplexität entschuldbar und dürfte dem Großteil des zahlreich erschienenen Publikums ohnehin nicht aufgefallen sein. Das düster instrumentierte Werk – in den Streichern beispielsweise stehen sechs Violinen jeweils vier Bratschen, Celli und Kontrabässe gegenüber – gerät unter Traftons Leitung zur vollen Entfaltung und man wundert sich, dass diese vor Energie schier überquellende Oper so selten auf den Spielplänen der Theater steht.

Auf der Bühne wird bis in die kleinste Rolle hinein Hochkarätiges geboten: Kenneth Mattice wird als stimmlich forscher Führer der Prévôté hinter der Bühne abgefilmt und auf die Leinwand projiziert, Veronika Haller gibt die Dame, die Biganzoli als durch und durch selbstverliebt inszeniert und Katharina Weissenborn in einen goldenen Glitzeranzug hüllt, zu Beginn kokett und stattet sie am Ende des ersten Aktes mit dunklen, gehaltvollen Farben aus. Ihr Kavalier findet in Thomas Paul eine Idealbesetzung, die mit so kraft- wie eindrucksvoller Höhe die kurze Partie perfekt ausfüllt. Die imposante Power des Basses von Ivo Stánchev, der als Goldhändler auftritt, drückt einen förmlich in den Sessel, während Thomas Beraus Cardillac fast ein wenig zu verhalten wirkt. Dem aus Ingolstadt stammende Bariton gelingt darstellerisch eine überzeugende Charakterstudie, doch stimmlich fehlt mir das Wahnhafte, das Dunkle, das der Titelfigur zu eigen ist und das sich auch in Hindemiths Partitur durchgängig zeigt. So bleibt der Eindruck Beraus hinter dem seiner Bühnentochter und deren Galan zurück. Die junge Sopranistin Angela Davis gibt Cardillacs Tochter facettenreich, bietet vom zarten Pianissimo bis zum satten Klang eines dramatischen Soprans die volle Farbpalette und macht so den Zwiespalt der Figur zwischen Liebe zum Vater und zum geliebten Offizier glaubhaft. Die Regie zeigt sie intelligent als Geschöpf Cardillacs, von dem er sich – wie von seinen Schmuckstücken – ebenfalls nicht trennen kann. Restlos begeistert bin ich auch von der klanglichen Wucht, der endlosen Kraft und der strahlenden Höhe, die Milen Bozhkov als Offizier mitbringt. Eindrucksvoll gestaltet er die höchst anspruchsvolle Partie so, wie man es besser kaum machen kann. Ebenfalls ohne Fehl und Tadel agiert der von Wolfgang Müller-Salow betreute Chor, der in uniformes Schwarz gewandet die exzellente Sängerriege komplettiert.

Ihr Jochen Rüth 11.11.2019

Die Fotos stammen von Klaus Lefebvre.