Hagen: „Jolanthe“, Peter Tschaikowsky / „Feuervogel“, Igor Strawinsky

Lieber Opernfreund-Freund,

Doppelabende, an denen sich das Publikum über Oper und Ballett gleichermaßen freuen kann, haben am Theater Hagen eine gewisse Tradition. Mir ist noch gut eine Doppelvorstellung von vor ein paar Jahren in Erinnerung, die die Geschichte von Dido und Aeneas einmal als Purcell-Oper und einmal als Ballett zu Händels Wassermusik erzählte, in der Spielzeit 2022/23 gab es einen Bartók-Doppelpack mit Herzog Blaubarts Burg und dem wunderbaren Mandarin. In diesem Jahr entführt das Theater Hagen uns nach Russland und paart Tschaikowsky letzte Oper Iolanthe mit Strawinskys Feuervogel. Nachdem die Vorstellung am vergangenen Mittwoch noch streikbedingt abgesagt werden musste, hatte ich gestern die Gelegenheit für einen Besuch. Dabei sind die Eindrücke, die die beiden Werke bei mir hinterlassen, höchst unterschiedlich.

© Bettina Stöß

Ein Jahr vor Tschaikowskys Tod entstand seine knapp 90minütige Oper Iolanta, die die Geschichte einer blinden Prinzessin erzählt, die auf Geheiß ihres Vaters nicht von ihrer Beeinträchtigung weiß, da man in ihrer Gegenwart nicht von Farben oder anderen, nur optisch wahrzunehmenden Dingen spricht. In ihren geheimen Garten dringt ein Prinz ein, die beiden verlieben sich. Am Ende stehen Heilung und Happy-End für das Liebespaar. Die Blindheit in der Geschichte kann als Metapher für vieles stehen: für eine Realität, vor der man die Augen verschließt, für die Bedürfnisse der Umwelt, die man nicht wahrnimmt – aber die Geschichte erzählt auch, dass man oft nur das vermisst, was man kennt. Vielschichtige Ansätze also, um sich dem Stück mit den Mitteln des Regietheaters zu nähern.

© Bettina Stöß

Dass das in Hagen dennoch nicht funktioniert, liegt daran, dass Isabel Ostermann sich bei ihrer Deutung zwar an der literarischen Vorlage orientiert, das aber handwerklich schlecht erzählt. Im der Oper zugrunde liegenden Drama König Renés Tochter des Dänen Hendrik Hertz aus dem Jahr 1845 wird offensichtlich, dass Jolanthe das Trauma eines Brandes in ihrer frühen Kindheit verarbeitet, bei dem sie nicht nur erblindet, sondern auch ihre Mutter verliert. Mit diesem Wissen im Hinterkopf bekommen die Zwangshandlungen, die Jolanthe im käfigartigen Bühnenaufbau von Julia Burkhardt an sich und ihrer Umwelt vorzunehmen hat – allendhalben werden Türme aus Tischen gebaut, der eigene Arm mit geometrischen Mustern bemalt und mit von der Decke hängenden Stühlen hantiert – zumindest ansatzweise einen Sinn. Aus Ostermanns Erzählweise wird dieser Sinn jedoch nicht klar und auch die während des kurzen Vorspiels eingeblendete Erläuterung mit Hinweis auf „einen schlimmen Vorfall“ wirft mehr Fragen auf, als dass sie erklärt; auch haben nicht „alle den Blick füreinander verloren“, wie da zu lesen ist – und gesungen wird ohnehin etwas ganz anderes. Am Ende bleibt der verzweifelte Versuch des Zuschauers, Gesehenes, Gehörtes und vielleicht im Programmheft Gelesenes zusammenzubringen – das ist anstrengend und gelingt nicht immer. Also bleibt mir während des ersten Teils des Abends nichts übrig, als mich an der wunderbar gelungenen musikalischen Seite der Veranstaltung festzuhalten.

© Bettina Stöß

Ensemblemitglied Angela Davis brilliert in der Titelrolle, führt ihren weichen, ausdrucksstarken Sopran höhensicher und routiniert und verleiht ihrer Figur so die Facetten, die die Regie nicht in ihr zu sehen scheint. Ihr zur Seite steht Anton Kuzenok mit strahlendem Tenor voll metallisch klingender Höhen und viel Gefühl. Das versucht auch Kenneth Mattice zu transportieren, wenn er als Robert leidenschaftlich von seiner Mathilde singt. Insu Hwang zeigt als Ibn-Hakia das tiefe Register seines eindrucksvollen Baritons, während Dong-Won Seo als König René mit profundem Bass überzeugen kann. Lucie Ceralová, Ofeliya Pogosyan und Anja Vogelsberger bei ihrem Terzett zuzuhören, ist eine reine Wonne, so perfekt harmonieren die glockenklaren Stimmen der drei Damen – so dass die gesangliche Umsetzung von Tschaikowskys melodienreicher Komposition kaum Anlass zur Klage gibt.

© Bettina Stöß

Ob die Zuschauer, die nach der Pause nicht auf ihre Plätze zurückgekehrt sind, ohnehin nur die Oper ansehen wollten oder sich von der Umsetzung des Regieteams haben ins Bockshorn jagen lassen, konnte ich nicht mehr klären. Verpasst haben sie in jedem Fall ein Feuerwerk aus Tanz und Klang, das Chefchoreograph Francesco Nappa um die Musik von Igor Strawinskys Feuervogel konzipiert hat. Dabei entfernt sich der gebürtige Italiener von der ursprünglichen Märchenerzählung und zeigt eine futuristische Story um geklonte Wesen im unterirdischen Laborkomplex eines Unrechtsstaates. Das klingt erst einmal wirr – bietet aber modernes Handlungsballett at its best und kommt dermaßen abwechslungsreich und energiegeladen daher, dass einen die optischen Eindrücke, die die Tänzerinnen und Tänzer rund um Antoine Luc Koutchouk Charbonneau und Yu-Hsuan Hsu in den farbenreichen und originellen Kostümen von Julia Burkhardt und dem ausgefeilten Licht von Martin Gehrke vermitteln, förmlich in den Sessel drücken.

© Bettina Stöß

Wesentlichen Anteil daran haben auch die Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen unter der Leitung von Rodrigo Tomillo, der beim Strawinsky die Ecken und Kanten der expressionistischen Partitur betont, wo er bei Tschaikowsky noch den Fokus auf dessen weiche, ausufernden Melodienbögen gelegt hat. Kontrastreicher kann man sich eine Opern-Ballett-Komposition kaum vorstellen – klanglich, aber auch in der Überzeugungskraft ihrer szenischen Umsetzung.

Ihr
Jochen Rüth

17. März 2025


Jolanthe
Oper von Peter Tschaikowsky

Feuervogel
Ballettmusik von Igor Strawinsky

Theater Hagen

Premiere: 15. Februar 2025
besuchte Vorstellung: 16. März 2025

Regie: Isabell Ostermann
Choreografie: Francesco Nappa

Musikalische Leitung: Rodrigo Tomillo
Philharmonisches Orchester Hagen

weitere Vorstellungen: 30. März, 17. April, 17. Mai und 6. Juli 2025