Hagen: „La Cenerentola“, Gioacchino Rossini

Rossinis nach dem Barbier von Sevilla meistgespielte Oper La Cenerentola, die der 24jährige Vielschreiber als 20. Oper in gerade einmal vierundzwanzig Tagen zu Papier brachte und die am 25. Januar 1817 im Teatro della Vale in Rom uraufgeführt wurde, verfehlte auch in Hagen ihre Publikumswirkung nicht. Die Besucherinnen und Besucher im gut gefüllten Stadttheater zeigten sich jedenfalls über die neue Produktion im Hause restlos begeistert. Das mag zunächst einmal an dem bekannten Märchenthema „Aschenputtel“ liegen, das in der Version der Gebrüder Grimm schon jedem Kind vertraut und teuer ist. Rossini und sein Librettist Jacopo Ferretti greifen in ihrer Adaption dieses Stoffs auf das Märchen Cendrillon aus Charles Perraults Sammlung zurück, nehmen aber auch Anleihen bei Opern aus dem frühen 19. Jahrhundert vor, so bei dem 1810 in Paris uraufgeführten Werk Cendrillon von Nicolas Isouard und der Oper Agatina, ovvero La virtù premiata von Francesco Fiorini.

© Leszek Januszewski

Als neue Figuren begegnen nun der Diener Dandini und Alidoro, aufklärerischer Philosoph und  Lehrmeister des Prinzen, der statt der sonst üblichen Fee die Fäden spinnt. Wichtiger aber ist, dass im Libretto von  Rossinis Oper auf die märchenhaft-magischen Erzählmotive verzichtet wird und stattdessen der Fokus ganz auf die Hauptfigur Angelina, das Engelchen, gelegt wird. Sie ist die Verkörperung all der Tugenden, die schon der Untertitel der Oper „ossia La bontà in trionfo (deutsch:  Der Triumph des Guten)“ anspricht. Güte und Herzlichkeit, Mitmenschlichkeit und Aufrichtigkeit zeichnen die junge Frau aus, die aufgrund dieser Tugenden, nicht aufgrund magisch-märchenhafter Eingriffe von außen sich selbstbewusst gegen ihre tyrannische Familie durchsetzt und ihr Glück findet. Als der Prinz Ramiro sie zum Schluss fragt, wie sie sich an Vater und Stiefschwestern rächen wolle, sagt sie bezeichnenderweise: „Meine Rache wird sein, ihnen zu vergeben.“
Auch Ramiro, die Stiefschwestern Clorinda und Tisbe und selbst die Figuren Don Magnifico und Dandini sind nicht mehr wie sonst häufig  in der Opera buffa eindeutig der Commedia dell’arte oder dem Märchen entlehnte Archetypen, sondern echte Charaktere mit zutiefst allgemeinmenschlichen, auch tragischen Wesenszügen. Rossinis Oper ist deshalb in der Verbindung komischer und tragischer Momente, dem Ineinandergreifen von Humor und Tiefsinn nicht nur eine Opera buffa, sondern eher eine Opera semiseria, und der Rossini-Biograph Richard Osborne würdigte La Cenerentola sogar als die „menschlichste aller großen Komödien Rossinis.“  

Nachdem Regisseurin Friederike Blum und Ausstatter Tassilo Tesche für ihre Produktion von Peter Eötvös‘ Tri Sestry mit dem Götz-Friedrich-Preis ausgezeichnet worden waren, sind sie nun an das Theater Hagen zurückgekehrt und inszenieren Rossinis Erfolgsoper La Cenerentola als turbulentes Spiel mit Märchenmotiven, wie es in der Vorankündigung des Theaters Hagen heißt. Und in der Tat fallen in der Gewitterszene des 2. Aktes große Kürbisse vom Himmel, die den Figuren in ihrem Wettstreit als Wurfgeschosse dienen, oder es schneit Papierschnitzel vom Himmel, die das lieto fine in eine märchenhafte Stimmung kleiden. Auch sonst gibt es in dieser Inszenierung manchen hübschen Einfall. Dandini hat seinen Auftritt als falscher Prinz mittels einer überdimensionierten Gangway oder zu Beginn werden die handelnden Figuren in Schaukästen als das Personal des kommenden turbulenten Geschehens präsentiert. Die bunten peppigen Kostüme (Tassilo Tesche) oder die stimmungsvolle Lichtregie z.B. in der Gewitterszene (Martin Gehrke, Hans-Joachim Köster) tragen ebenfalls zu dem märchenhaften Gesamteindruck bei.

© Leszek Januszewski

Die Grundidee der Inszenierung indes zeigt sich schon im Bühnenbild. Den Boden aller Rauminstallationen bildet ein Rad des Schicksals, das u.a. vom Chor als den Mechanikern des Schicksals  per Knopfdruck in Gang gesetzt werden kann. Dieses Rad taucht als Motiv auch in anderer Form auf, z.B. auf den T-Shirts der Choristen oder sogar des Dirigenten. Die Aussage ist klar: Alles unterliegt einem schicksalhaften Ablauf, wobei einzelne Figuren wie Alidoro oder besonders Angelina mehr oder weniger erfolgreich in die Speichen des Schicksalsrades zu greifen versuchen. Die Choristen sind es auch, welche einige Stellwände –auf der Innenseite mattweiß, auf der Außenseite in bunten Farben-  wie von Geisterhand neu gruppieren. Diese Stellwände bilden im 1. Akt die triste, enge Behausung Don Magnificos, in der das schwarz gekleidete, eben rußige Aschenputtel den Schikanen ihrer Stieffamilie ausgesetzt ist, sie illusionieren mit ihrer bunten Seite, die  in den Farben des Ballkleids von Angelina wieder begegnen, aber auch die luxuriöse Palastatmosphäre des Prinzen. Das alles ist schön anzuschauen und erzählt die Aschenputtel Geschichte im modernen Gewande eingängig und verständlich. Da hätte es eigentlich der Brecht’schen Belehrung des Publikums nicht bedurft, indem den Figuren immer wieder  Schilder vorgehalten werden, die sie mit Aufschriften wie Trantüte, King-Kong, Antiheld, Prima Donna als Typen charakterisieren sollen. Auch der Verlauf der Handlung wird auf diese Weise als Komödie oder Tragödie dem Zuschauer eher holzhammerartig durch Einziehen einer Metaebene vorgestellt. Ein guter Regieeinfall ist allerdings, dass Angelina am Ende alle Schilder einsammelt und damit dokumentiert, dass man Menschen nicht in eine vorgefertigte Schublade stecken darf. Schön auch die Idee, dass am Schluss die Wände der Behausung Don Magnificos zusammenbrechen. Die Enge hartherzigen, vorurteilsbeladenen, eigensüchtigen und fremdbestimmten Verhaltens hat der Offenheit und Großherzigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen Platz gemacht.

Die musikalische Seite der Aufführung in Hagen bereitet höchstes Vergnügen. Die mitreißenden Musiknummern voller Witz, Turbulenzen und Raffinesse, die Variation zwischen beseelten Kantilenen und halsbrecherischen Koloraturverzierungen in den Arien und Ensembleszenen, der atemberaubende Schnellsprechgesang der Figuren, kurzum der Höhenflug musikalisch genialer neuer Einfälle und musikalischer Verwandlungskünste in Rossinis Oper werden von allen Sängerinnen und Sängern, von Chor und Orchester mit zunehmender Spieldauer immer perfekter dargeboten. Unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel gelingt es dem Philharmonischen Orchester Hagen vor allem im zweiten Teil des Abends immer besser, die herrliche Musik Rossinis mit Esprit und schlankem Klang erblühen zu lassen. Nun gelingt es auch, die Synchronisation von Klangkörper und Singstimmen bis in die Quintette und Sextette genau zu synchronisieren.

© Leszek Januszewski

Unter den Solistinnen und Solisten gebührt Lamia Beuque als Angelina sicherlich die Palme. Ihr hell timbrierter Mezzo überzeugt sowohl in den eher lyrischen Passagen wie in der Romanze  Una volta c’era un re, mit deren Innigkeit sich Angelina sofort von allen anderen Figuren absetzt, wie auch in den Passagen, in denen Rossini der Titelfigur mit artistischen Koloraturen alles abverlangt wie in der berühmten Schlussarie Nacqui all’affanno, al pianto, die Lamia Beuque mit müheloser Leichtigkeit und akrobatischer Stimmtechnik meisterte. Bravo!
Das Ensemblemitglied Anton Kuzenok, wie Lucia Tietze aus dem Internationalen Opernstudio der Oper Köln hervorgegangen, sang die anspruchsvolle Partie des Don Ramiro mit beweglichem, ungemein wohlklingendem Tenor und glänzte auch in den hohen Lagen mit strahlenden Spitzentönen. Nur wenige Ausflüchte in Falsetttöne schmälern nicht eine insgesamt fulminante Leistung. Tigran Martirossian  war ein schauspielerisch und sängerisch großartiger Don Magnifico und bewies in seiner Bravourarie im 2. Akt, warum das Ensemblemitglied der Hamburger Staatsoper an den größten Bühnen der Welt ein gefragter Gast ist. Neben Olch Lebedyv als umtriebigem Dandini begeisterten Luzia Tietze und Ofeliya Pogosyan, Ensemblemitglied der Semperoper Dresden, als intrigantes, hartherziges und egoistisches Schwesternpaar, das allerdings auch vom Vater manipuliert wird, auf der ganzen Linie. Dong-Won Seo lieh dem Philosophen Alidoro seine wunderbar warmtimbrierte, sonore Bassstimme und fügte sich in das insgesamt sehr gute Gesangsensemble bestens ein. Die wenigen Männer des Herrenchores des Theaters Hagen erfüllten den Chorpart mit erstaunlicher stimmlicher Präsenz und waren die allgegenwärtigen Mechaniker des Schicksals.

Das Publikum im leider nicht ganz ausverkauften Haus feierte alle Beteiligten mit lang anhaltemden Beifall und bedankte sich auf diese Weise für einen höchst vergnüglichen Opernabend.

Norbert Pabelick, 9. Dezember 2024

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La Cenerentola
Gioacchino Rossini

Theater Hagen

7. Dezember 2024

Inszenierung: Friederike Blum
Dirigat: Steffen Müller-Gabriel
Philharmonisches Orchester Hagen