Münster: „Alcina“

Premiere 14. Januar 2017

Liebeszauber im Eispalast

Das Versepos aus dem 16. Jhdt. „Orlando furioso“ (Der rasende Roland) von Ludovico Ariosto wird heute vor allem erwähnt, weil Episoden daraus von Georg Friedrich Händel und anderen Komponisten zu Opernhandlungen verwendet wurden. So verhält es sich auch mit Händels dramma per musica „Alcina“ Dies hatte am Theater Münster als Höhepunkt der „Tage der Barockmusik“ unter der musikalischen Leitung von Attilio Cremonesi und in der Inszenierung von Sebastian Ritschel am letzten Samstag Premiere.

Im Gegensatz zu höfischen Intrigen in der vor zwei Jahren aufgeführten „Ariodante“ handelt es sich bei „Alcina“ um eine Zauberoper, die Liebesglück und Liebesleid in für die jeweilige Gefühlslage charakteristischen Da-capo-Arien begleitet von abwechslungsreicher Instrumentation darstellt.

Um Männer anzulocken zauberte Zauberin Alcina in ihren Eispalast – ein erjagter Eisbär hängt unter der Decke – Sehnsuchts – Räume, Vorläufer von Baudelaires „paradis artificiels“ (künstliche Paradiese). Diese machten in Münster einen etwas sparsamen Eindruck – einmal ein grüner Garten und einmal eine Sektbar , jeweils seitlich auf die Bühne geschoben (Bühne Markus Meyer) Ihre früheren ausgelaugten Liebhaber verwandelte Alcina in geschlechts- und seelenlose Zombies, die herumwankten, sie bedienten, aber auch als vergeblich angerufene Geister sehr beweglich waren. So wurden die manchmal langen Da-capo-Arien optisch aufgelockert (acht Statisten). Beim letzten von ihrem Liebeszauber verführten Mann, Ruggiero , klappte das so nicht mehr. Seine frühere Braut Bradamante kam als Mann verkleidet mit ihrem Erzieher Melisso im Schneesturm auf die Insel und durch eines der drei Tore in ihren Palast. Nach wechselhaften Gefühlswirren erkannte Ruggiero, von Alcinas Zauber geheilt, in Bradamante seine wahre Liebe und konnte mit ihr die Insel verlassen.

Alcinas Zauberkünste versagten nämlich, weil sie Ruggiero nicht nur als zeitweiliges Sexobjekt betrachtet hatte, sondern ihn aufrichtig liebte. Es gibt dann noch eine Nebenhandlung, wie sich Alcinas flatterhafte Schwester Morgana in die als Mann verkleidete Bradamante verliebte. Als sie den Irrtum bemerkte, kehrte sich flugs zu ihrem früheren Liebhaber Oronte zurück. Nachdem Ruggiero Alcinas Reich mit einer Axt zerstört hatte, erstarrten die verwandelten Liebhaber zusammen mit Alcina in der trostlosen Eislandschaft, mit der das Stück begann. Den dankbaren Schlußchor stimmten alle Sänger ausser Alcina an. Als Abschluß folgte leise und langsam verklingend ein Teil von Händels Ballettmusik – eben dramma per musica!

Die Kostüme, ebenfalls von Sebastian Ritschel, waren wie bei Händel heute üblich gemässigt modern mit wechselnden Abendroben für Alcina und den dargestellten Temperaturen entsprechend mit viel Pelz. Letzteren trugen auch die „Zombies“ zu ihrer spärlichen Unterbekleidung.

Gelungen war insgesamt die musikalische Seite der Aufführung. Für die Titelpartie schien das Timbre des Soprans von Henrike Jacob in der ersten grossen Arie über die Liebe zu Ruggiero etwas wenig verzaubernd. Sie steigerte sich aber im Laufe des Abends, besonders in den Arien von Trauer und Verzweiflung. Ein Höhepunkt war vor der Pause die Arie „A! mio cor!“ (O mein Herz du bist verachtet), wo sie bemerkt, daß Ruggiero eine andere liebt. Verzweiflung wurde im p dargestellt, die Rachegefühle im Mittelteil fielen schnell in sich zusammen zum fragenden „Perché?“ (warum). Ausgerechnet zum verklingenden Schluß rauschte laut und störend Regen auf sie herab, da fragt sich auch der Besucher „Perché? Koloraturen und Spitzentöne der Arie „Ombre pallide“, in der sie merkt, daß ihre Zauberkünste versagen (wiederum perché), wurden gut getroffen. Schon fast vor Kälte erstarrt sang sie wieder ganz verhalten die letzte (Tränen-)Arie „Mi restano le lagrime“

Lisa Wedekind als Münsters Spezialistin für Hosenrollen spielte überzeugend und glänzte mit ihrem in allen Lagen ansprechenden substanzreichen Mezzo in der Partie des Ruggiero. Die Koloraturen der liebestrunkenen ersten Arie gelangen ebenso wie die tiefen Töne der Eifersucht, als er glaubt, Alcina liebe die als Mann verkleidete Bradamante und wie der gefühlvolle Stimmausdruck, als er zu seiner Liebe zu Bradamante zurückfindet. Einen seiner Hits „Verdi prati“, wo er bedauert, daß er die gezauberte grüne Natur wird zerstören müssen, wurde ziemlich gekürzt, es war ja auch nicht viel davon auf der Bühne zu sehen. Bekannt vom Theater Bonn konnte man als Ruggieros geliebte Bradamante Charlotte Quadt bewundern. Erwähnt werden soll als Beispiel ihre „Rachearie“, wo sie glaubte, daß Ruggiero sie aus Liebe zu Alcina nicht erkennen will (Vorrei vendicarmi).

Nach so vielen Arien erfreute besonders das Terzett der drei kurz vor Ende „Non è amor“ (Nicht Liebe oder Neid, sondern Mitleid)

Koloraturen im etwas italienischen Stil beherrschte Eva Bauchmüller als schnell ihre Liebe wechselnde Morgana „Amar e disamar“ singt sie (Ich liebe und liebe nicht mehr, so wie ich möchte) Ihre Arien wurden gekonnt von hohen instrumentalen Soli begleitet, einmal der Violine (Midori Goto) und einmal des Cello. (auch im Continuo Shengzi Guo). Echtes Gefühl zeigte sie erst, als sie zu Oronte zurückkehren wollte (Crede al mio dolore – glaub an meinen Schmerz). Letzteren sang mit kräftigem Tenor Youn-Seong Shim. Besonders gefiel seine koloraturenreiche Arie über die untreuen Frauen „Semplicetto a donna credi?“ fast schon an „Cosi fan tutte“ erinnernd. Gleichzeitig spielte er etwas übertriebene Eifersucht. Filippo Bettoschi ergänzte in der Bariton Partie als Bradamantes Vertrauter Melisso überzeugend das Ensemble.

Grosses Lob gebührt dem wie immer bei solchen Gelegenheiten höher platzierten Sinfonieorchester Münster, das für die „Tage der Barockmusik“ von Attilio Cremonesi als „artist in residence“ geleitet wurde. Hörbar hatte er das Orchester informiert, wie man „historisch in- formiert“ spielt, wenn viele es nicht schon vorher konnten.. Er setzte kräftige musikalische Akzente, etwa der Streicher bei Begleitung von Ruggieros Arie „La bocca vaga“ (das süsse Mündchen) teilweise in durchaus raschem Tempo, etwa zu Bradamantes Rachearie. Gleichzeitig sorgte er für einfühlsame Begleitung der Sänger. Aus dem Orchester sei als Beispiel hervorgehoben die Begleitung durch die Hörner von Ruggieros letzter heroischer Arie über Alcinas Verhalten als nun machtlose Tigerin. Ausser dem Dirigenten selbst spielte Andrea Marchiol Cembalo – auch mit einem Solo. Michael Emig am Kontrabass ergänzte die Continuo-Gruppe.

Beim Publikum im ausverkauften Haus erweckte die Aufführung Begeisterung, manchmal schon mit Zwischenapplaus und zum Schluß auch mit Bravos für die Sänger, Orchester und den temperamentvollen Dirigenten, auch für das Leitungsteam. Froh konnten man sein, daß nach der Vorstellung im Vergleich zum vielen Schnee auf der Bühne es in Münster kaum schneite.

Sigi Brockmann 15. Januar 2017

Fotos (c) Theater Münster / Oliver Berg