Premiere 9. April 2016, besuchte zweite Aufführung 21. April 2016
Damit hatte Marcel Reich-Ranicki wohl recht, wenn er meinte, von Bertolt Brechts Stücken würden vor allem die weiterhin aufgeführt werden, zu denen Kurt Weill Musik komponiert hat. Nur belehrende Kapitalismus-Kritik und karikierende Bibelzitate vermögen heute nicht mehr aufzuregen, eher schon die Darstellung einer nach immer gesteigerten „Kicks“ gierenden Freizeitgesellschaft. Zusammen mit Weills unterhaltsamer Musik hat deshalb neben der unverwüstlichen „Dreigroschenoper“ Erfolg vor allem die fast durchkomponierte Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ – aus Brechts „epischem Theater“ wurde ein „musikalischer Bilderbogen“ (Weill). Das zeigte eine Aufführung im Theater Münster in Koproduktion mit dem Landestheater Innsbruck unter der musikalischen Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg in der Inszenierung des „Hausherrn“ Ulrich Peters
Die bunten abwechslungsreichen Kostüme von Thomas Dörfler im Stil der Entstehungszeit der Oper waren wenig spektakulär, auch nicht, als für die Gerichtsverhandlung die Hauptbeteiligten Richterroben anlegten.
Das Orchester war hinten auf der Bühne platziert. Da davor in der Mitte der VW Bulli fahruntüchtig stehenblieb, was für den Gründungsort Mahagonnys ursächlich war, und rechts und links Palmen standen, blieb wenig Spielfläche übrig. (Bühne Thomas Dörfler) Das wurde ausgeglichen dadurch, daß der nicht benutzte Orchestergraben für Auf- und Abgänge diente und aus ihm Spielorte wie der Tisch fürs grosse Fressen oder der Boxring hoch- und heruntergefahren wurden.
In diesem Rahmen ließ der Regisseur die Handlung zunächst ohne Überraschungen wie von den Autoren beabsichtigt ablaufen. Projektionen auf einem Gazevorhang zwischen Bühne und Orchester zeigten Großstadtkulisse und auch den herankommenden Hurrikan. Als dieser Mahagonny verschonte, und die grosse Losung „Du darfst alles“ ausgegeben war, wurde auch dies wie durch den Text angekündigt dargestellt. Erst wurde gefressen, an zu viel Spaghettigenuß krepierte Jack, dabei mit edlem Tenor gesungen von Youn-Seong Shim, delikat begleitet von Zither und Akkordeon. Danach wurde gevögelt, wie hieß doch der Spruch in unserer Jugend „Nach dem Essen ….“ -(Rauchen ist ja gefährlich).
Da viele Herren zu den Nutten wollten, mußten sie Schlange stehen und wurden von Witwe Begbick mit den notwendigen Kleinigkeiten versorgt. Dann kam Sportschau – hier ein Boxkampf, wobei der schmächtige Alaskawolfjoe (Plamen Hidjov) krepierte, was solls, alle (zahlenden) Zuschauer fanden es spannend, „fast wie ein Krimi“ Zum Saufen gabs dann Freibier von Jim Mahoney.
Da er dies nicht bezahlen konnte und auch das Gericht nicht bestechen konnte, wurde er bekanntlich zum Tode verurteilt. Hier fand Ulrich Peters zum ersten Mal an diesem Abend ein ungewohntes eindringliches Bild – Jim wurde auf der Bühne gekreuzigt und der Leichnam seiner Jenny wie einer Pieta in die Arme gelegt.
Mit diesem Jim Mahoney erlebte man Wolfgang Schwaninger in einer seiner Paraderollen. Sein Tenor verfügte über genügend Stärke gegenüber Chor und Orchester. Operetten-ähnlich glänzend besang er seine Erlebnisse in Alaska. Ganz eindringlich gelang mit heldischen Spitzentönen vor seiner Hinrichtung die sogenannte „Gethsemane“ – Szene. Zu den Höhepunkten des Abends zählten seine wenigen aber als einzige echte Gefühle darstellenden Szenen mit seiner geliebten Jenny.
Für diese hatte Henrike Jacob die passende Figur und Stimme. Die Töne genau treffend hörte man den leicht lasziven Unterton der erfahrenen Hure in ihrer Stimme, etwa bei Schilderung ihres Lebenslaufes, aber auch echt empfundene Zuneigung zu Jim. Als die drei Gründer von Mahagonny spielten Boris Leisenheimer als Prokurist Fatty, mit mächtigem Bariton Gregor Dalal als Dreieinigkeitsmoses und als Herrgott sowie Suzanne McLeod als Begbick überzeugend ihre Rollen. Letztere fand nachdenkliche Töne für ihre vergangene Liebe, ordinäre als Wirtin und Puffmutter und scharfe als Richterin. Lobend zu erwähnen ist auch Birger Radde als Sparbüchsen-Bill, der letzte Überlebende der Holzfäller aus Alaska.
An Stelle der von Brecht so pädagogisch vorgeschriebenen Schrifttafeln erläuterte als salbungsvoller Sprecher Oliver Bode den Gang der Handlung.
Gelungen war auch der Einsatz von Chor und Extrachor, die Damen als Nutten, zahlenmässig imposanter die Herren als gieriges Mannsvolk, in der Einstudierung von Inna Batyuk. Mehrstimmig exakt in den Ensembles und mächtig in den „Hits“ aus der ursprünglichen Song- Fassung, den nachempfundenen Chorälen und Hymnen trugen sie wesentlich zum Gelingen des Abends bei.
Den größten Eindruck hinterließ das Sinfonieorchester Münster unter der Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg. Seine Platzierung hinten auf der Bühne erschwerte den Kontakt mit der Bühne (nur über Monitor) – das merkte man nicht. Manchmal erschwerte sie aber auch das Textverständnis der Sänger – da wären Übertitel passend gewesen. Auf der anderen Seite begeisterte so ganz direkt die Musik Weills mit z.B.verfremdeten Bach-Chorälen, Passionsmusik und Fugen – Weill war ja Schüler von Busoni, der Klavierspielern durch seine Bach-Bearbeitungen bekannt ist. Ebenso hörte man u.a. Karikierung von Webers „Jungfernkranz“ und eines kitschigen „Gebets einer Jungfrau“ aus dem 19. Jahrhundert bis hin zu Tanzformen wie Ländler, Blues Tango. Exquisite Instrumentation wie etwa beim Herannahen des Hurrikans, Solos etwa von Streichern, Harfe, Holzbläsern waren genau zu hören, Saxophon, Zither und Akkordeon konnten sogar sichtbar auf der Bühne gespielt werden – eine Musik für Kenner, die auch weniger erfahrenene Zuhörer begeistern kann.
Als mit der Mahler ähnlichen Marschmusik der gewaltige Schlußchor ertönte mit dem Refrain „Können einem toten Mann nicht helfen“ war der Kontrast zum gestorbenen Jesus im Arm Jennys im Hintergrund deutlich genug, denn der wollte ja alle Menschen erlösen. Da hätte es einer Projektion Hitlers nicht zusätzlich gebraucht
Im Publikum gab es viel Jugend (Theaterjugendring) Einer meinte nachher, die Musik sei toll gewesen, aber die Handlung für zweieinhalb Stunden etwas dürftig. Da hatte er Recht, man hätte etwa die eingebildete Rückfahrt Jims nach Alaska, das Ensemble über eventuelle Fahrt nach Benares oder sogar das Erscheinen Gottes in Mahagonny auslassen können, ohne der eigentlichen Handlung Gewalt anzutun.
Trotzdem gab langandauernden Beifall mit Bravos auch und gerade von den Jugendlichen für die Hauptdarsteller und besonders das Orchester.
Sigi Brockmann 22. April 2016
Fotos Oliver Berg
PS: Jim-Darsteller Wolfgang Schwaninger kann man nach seinem „Peter Grimes“ vor einigen Jahren in Münster am 3. Juni 2016 als Lohengrin in Osnabrück erleben