Premiere: 18.09.2020,
besuchte Vorstellung: 20.09.2020
Meister Jagos Puppenspiel
Lieber Opernfreund-Freund,
als ich Ihnen im März von der Premiere des Kölner Trovatore berichtet habe, hätte ich kaum vermutet, dass es mehr als ein halbes Jahr dauern könnte, ehe ich Ihnen endlich wieder schreiben kann. Und auch das Theater Regensburg hätte die Neuproduktion von Verdis Otello gerne schon im Juni präsentiert, zeigt sie aber nun – an das, was unter derzeitigen Bedingungen möglich ist, angepasst – seit vergangenem Freitag am Bismarckplatz.
Und doch ist es keine „Coronaversion“, die Regisseurin Verena Stoiber da erdacht hat, sondern eine vollends schlüssige Lesart, die Jago in den Mittelpunkt stellt und auch unter regulären Bedingungen hätte gezeigt werden können: Jago ist Dreh- und Angelpunkt der Produktion und inszeniert der Geschichte. Er hält die Fäden in der Hand, zieht die Strippen und dazu holt er die Figuren als Puppen aus einem Setzkasten, arrangiert sie und bringt so die Story in Gang. Die kaum 25 Chorsänger (Verdi-übliches Extrapersonal fehlt in diesen Zeiten) stehen mit den Solisten in einer überdimensionalen Version davon; Otello, Desdemona und Co., von Sophia Schneider in historische Kostüme gehüllt (nur Jago bleibt auch hier Außenseiter), treten auf die leere Bühne heraus, agieren miteinander oder mit den Puppen-Alter-Egos, um trotz Abstandsregeln direkte Interaktion zu ermöglichen. Dabei helfen auch die von Vanessa Dahl vorproduzierten Videos, die als dritte Ebene auf die Rückwand des Setzkastens projiziert werden, wenn dieser vom Publikum abgewandt ist. Ergänzt werden diese Einspielung noch durch Live-Videos, für die gestern Philipp Weber verantwortlich zeichnet. Wenn man sich auf das Spiel mit diesen Ebenen einlässt, wird Stoibers Inszenierung eine packende Interpretation des bekannten Stoffes und, dass die aus dem Bayerischen Wald stammende Regisseurin die Rahmenhandlung in die Welt des Theaters verlegt und sich letztendlich alles als Hirngespinste eines in unglücklicher Liebe dem Wahn verfallenen Pförtner entpuppt, ist dabei ein besonderer Clou.
Zeit für ein wenig Kritik räumt die junge Regisseurin dem Sängerpersonal während des Finales des 3. Aktes ein. „OHNE UNS IST STILLE“ hält der Chor da dem Publikum entgegen – doch gerade dem dürfte das bereits klar sein. 200 Menschen dürfen derzeit in Bayern in einem Theater sitzen – und gestern waren alle da, mehr als froh, dass wieder gespielt wird, neugierig auf den klanglich reduzierten Otello und deshalb ohne Murren und höchst diszipliniert Maske tragend oder sich an jeder Ecke die Hände desinfizierend. Und auch klanglich war einiges anders als sonst: Verdis Otello mit 21 Musikern? Kann das funktionieren? Letztendlich sind nahezu alle Positionen solistisch besetzt – und doch gelingen die eindrucksvollsten Passagen der Partitur wie der Sturm zu Beginn oder das Ende des 3. Aktes nicht weniger imposant als sonst. Das ist sicher nicht nur der hohen Präzision der Instrumentalisten, sondern auch dem genauen Dirigat von GMD Chin-Chao Lin zu verdanken, der auch in dieser fast kammermusikalischen Besetzung Verdi at his best präsentiert und dabei der einen oder anderen klangliche Überraschung Raum gibt, wenn sich beispielsweise einzelne Melodienbögen klarer entwickeln oder einzelne Stimmen deutlicher hervor treten.
Und auch gesanglich wird einiges geboten am Theater am Bismarckplatz, das Haus stemmt die Produktion ausschließlich mit eigenen Kräften. Deniz Yilmaz ist dabei ein klanggewaltiger, stimmlich präsenter Otello mit eindrucksvollen Höhen voller Strahlkraft, beeindruckenden Ausbrüchen und Gänsehaut erzeugenden leiseren Passagen. Lediglich darstellerisch könnte der türkische Tenor noch eine halbe Schippe draufpacken, um sein Rollenportrait noch überzeugender zu gestalten. Die Rumänin Theodora Varga ist seit 10 Jahren Ensemblemitglied in Regensburg, glänzt als Desdemona mit einer ausgefeilten Charakterstudie ihrer Figur; man spürt förmlich, wie es Desdemona bei den Anschuldigungen ihres Mannes den Boden unter den Füßen wegzieht. Varga beeindruckt mich zudem vor allem mit klanglicher Anmut und anbetungswürdigen Piani. Die Hauptfigur am gestrigen Abend ist sicher der Jago von Seymur Karimov. Er imponiert mir mit endlos erscheinendem Atem, mischt seinem profunden Bariton immer wieder zwielichtig schimmernde Farben bei und zeigt auch darstellerisch mehr als überzeugend den von der Regie gezeichneten Psychopathen.
Brent L. Damkier ist als Cassio ein Ohrenschmaus voller Nonchalance, Selcuk Hakan Tıraşoğlu verleiht dem Lodovico mit seinem Bass Gewicht und Tamta Tarielashvili ist eine mitfühlende und energische Emilia mit ihrem satten Mezzo. Auch die Damen und Herren des Chores, von Alistair Lilley exzellent betreut, sind bestens disponiert und lassen durchchoreographierte Massenszenen durch ihre stimmliche Präsenz keine Sekunde vermissen. Das Publikum ist am Ende der Vorstellung zurecht begeistert – und auch ich kann ihnen diesen reduzierten Otello, bei dem ich aufgrund der engagierten Ensembleleistung absolut nichts vermisse, wärmstens ans Herz legen.
Ihr
Jochen Rüth
21.09.2020
Die Fotos stammen von Jochen Quast und zeigen mitunter die Alternativbesetzungen.