Meiningen, Sprechtheater: „Maria Stuart“, Friedrich Schiller

Ausnahmsweise mal Sprechtheater par excellence. Man findet es ja nur noch selten. Es ist eine Hommage an die Künstler, die Unsichtbares und Unausgesprochenes gestalten. Matthias Schubert, längst eine Größe im Sounddesign für Film und Theater, hat ein sehr feines Gespür für den wohldosierten und gezielten Einsatz seiner Klänge. Ein Schauspiel braucht keine sinnfreie Berieselung mit Permanenthintergrundgedudel. Extrem sparsam zaubert er mit synthetischer Musik und Samples eine besondere Dimension an Tonszenarien. Manchmal erst kaum hörbar, greifen Elemente ins Geschehen ein, sensibilisieren oder alarmieren den Zuschauer, der sich der Wirkung nicht entziehen kann. Hohe Töne, filigran und rhythmisch, bauen Spannung auf. Harter Sound stimmt auf harte Verhandlungen ein und ein Song am Ende bringt zum Ausdruck, wofür keiner Worte fand. Würde man den Besucher nach der Vorstellung fragen, was er denn gehört hat, wird er kaum exakte Wahrnehmungen wiedergeben können. Das bedeutet nicht, dass er den Backgroundsound nicht weiter beachtet hat, sondern hier eine totale Stimmigkeit von Spiel – Kulisse – Licht und Musik erzeugt wurde. Schauspieldirektor und Regisseur Frank Behnke schuf zusammen mit seinem Dramaturgen Cornelius Benedikt Edlefsen eine Version des 1800 uraufgeführten Werkes, die die Balance zwischen Schillers Intention und heutiger Interpretation exzellent realisiert: Moderne mit Klassik vereint.

Fotos: Christina Iberl

Jeder, der im Deutschunterricht mit trockener Schillerlektüre gequält wurde, muss diese „Maria Stuart“ als eine Offenbarung empfinden. Vom ersten Moment an fesseln die Figuren in elektrisierender Präsenz. Statt abstrakt distanziertem oder zu pathetischem Deklamieren zeigt sich hier spannendstes Rollenspiel in unverfälschter aber verschlankter Sprache, die alle scheinbar mühelos und exzellent beherrschen. Alle Schauspieler, ausnahmslos alle, haben ihre Rollen so verinnerlicht, dass hier eine Realität entsteht, der man sich nicht entziehen kann.

Maria Stuart, Königin von Schottland, floh wegen der Mittäterschaft an der Ermordung ihres Ehegatten nach England, um dort bei Königin Elisabeth, ihrer illegitimen Schwester, aufgenommen zu werden. Weil diese aber eine mögliche Konkurrentin fürchtet, lässt sie sie einsperren. Zudem läuft ein Prozess wegen eines angeblichen Mordkomplotts gegen die Regentin. Da nach 19 Jahren noch immer kein Urteil gefällt wurde, bittet sie ihren glühenden Verehrer Mortimer, den Neffen ihres Bewachers Paulet, dem Berater Elisabeths, Graf von Leicester, einen Brief zu überbringen, der ihre Freilassung ermöglichen könnte. Leicester, einst selbst in Maria verliebt, erfährt dabei von den Plänen Mortimers, die Gefangene zu befreien. Doch sie wird schuldig gesprochen. Die Königin von England hat ihrerseits ein anderes Problem: Sie soll aus machtpolitischen Gründen den Sohn des französischen Königs heiraten, was ihr zutiefst zuwider ist. In ihrem Staatsrat nun verhandeln Baron Burleigh, ein eingebildeter Hardliner, Graf von Shrewsbury, der vordergründig zu Barmherzigkeit neigt und Graf von Leicester über die Hinrichtung Marias. Elisabeth drückt sich bislang, das Todesurteil zu unterschreiben. Ein Treffen der beiden Frauen im Park könnte die Wende bringen, endet aber in wüsten Beschimpfungen und Demütigungen von beiden Seiten. Als noch ein Anschlag auf die Königin verübt wird, hinter dem angeblich die Gefangene stecken soll, ist Marias Schicksal besiegelt. Leicester schiebt Mortimer und dessen Befreiungsplänen die Schuld an allem zu, der sich infolgedessen umbringt. Elisabeth, fast Marionette in diesem Machtpoker, durchschaut zwar das doppelte Spiel des Grafen, hat aber nicht die Kraft, sich gegen ihn und die Forderungen des Volkes zu wehren.

Fotos: Christina Iberl

Sie unterschreibt das Todesurteil, das Burleigh schnellstens an sich bringt und vollstrecken lässt. Als sich jetzt herausstellt, dass Maria unschuldig ist, ist sie bereits tot. Ihrer Widersacherin entledigt, nun gänzlich ohne Berater, die zu neuen Ufern aufbrechen, bleibt sie das, was sie doch trotz aller Last am meisten begehrt: absolute Herrscherin.

Wenn Schiller „die Schaubühne als moralische Anstalt“ betrachtet, weist er dem Publikum die wichtige Rolle zu, die Schändlichkeit der scheinbar Großen mitsamt ihrem Umfeld zu erfassen. Es erkennt den „Schein“, ist entsetzt und wird sich der Parallelen zum gegenwärtigen Politbetrieb bewusst. Wenn es gut läuft, verzichtet es auf „Opium“, hinterfragt die Zustände und entscheidet sich für aktive Veränderung.

Es ist ein Trauerspiel, nicht weil am Ende eine stirbt, sondern weil es der Welt den Spiegel vorhält: Wer sitzt oben? Wer gehört zu den Spitzen der Politik, der Religionen, der Wirtschaft? Wer missbraucht die Macht für seinen eigenen Vorteil? Schiller war Idealist – von Jugend an – doch in der Summe seiner Werke rangieren die Bad-Ends weit vor den Happy-Ends. Nochmal: „Die Schaubühne ist eine moralische Anstalt“, und so wird „Maria Stuart“ auch noch in Hunderten von Jahren traurig aktuell ihren Auftrag erfüllen müssen. Es sei denn: „Wenn 1000 kleine Leute 1000 kleine Schritte tun, wird unsere Welt wieder neu.“ (Roland Breitenbach)

Michael Lindner hat in der Konstruktion des Bühnenbilds bewusst auf Schwarz und Grau gesetzt. Gefängnis und Regierungspalast sind düstere Orte mit hohen Wänden. Lichten Raum gibt es nur am Anfang, nämlich die Zelle, ein beleuchteter Glaskasten, in dem Maria eingesperrt ist, und am Ende, wenn sie in den Tod schreitet. Ihr Gewand in Rot schmeichelt, sie wirkt anmutig, lebendig, ungebrochen, nicht verhärmt und impulsiv. Elisabeth dagegen ist eingezwängt in eine kostbare Robe ihrer Zeit, gemäß dem Original im Tudor-Look, maskenhaft starr und grauenvoll weiß gepudert. Anders die Männer: Die „Berater“ der Königin, allesamt im lässigen Businessdress der Gegenwart. Je schwärzer die Seelen, desto schwärzer die Anzüge und umgekehrt. Nur Mortimer kommt recht sportlich und jugendlich daher und der französische Gesandte vertritt sein Land im albern gelben Samtanzug. Es herrscht eine gelungene Balance zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

Fotos: Christina Iberl

Anja Lenßen verkörpert Elisabeth I., diese machtbesessene Frau, in einer starren, fast marionettenhaften Haltung. Sie ist nicht durch und durch schlecht, doch menschliche Regungen erstickt sie im Ansatz und agiert dann umso härter, nur um nicht aus der Rolle zu fallen. Der Gedanke, aus außenpolitischen Gründen heiraten zu müssen und gar ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, ist ihr ein Gräuel. Einzig Leicester gelingt es für einen Moment, die Frau in ihr zu wecken. Unangenehme Entscheidungen lässt sie andere treffen, erst recht, wenn es um Maria geht. Anja Lenßen spielt nicht, sie ist Elisabeth. Sprache und Haltung sind von einer Perfektion, dass sie am Ende beim Applaus sogar fast das Lächeln vergisst.

Larissa Aimée Breidbach strahlt natürliche Größe und Anmut aus. Nach 19 Jahren Haft wirkt sie erstaunlich frisch. Ungebrochen sind Stolz und Haltung Marias, der Geist ist wach und sie beweist Mut. Sie bleibt Mensch, steht zu ihren Fehlern und wenn beide Frauen im Park aufeinandertreffen, zeigt sich ungezügeltes Temperament, das ohne Rücksicht auf Konsequenzen die andere bloßstellt. Sie zeigt Charakter, wächst über die Situation hinaus und sieht sogar im Tod das Positive: Freiheit.

Stefan Willi Wang als Graf von Leicester weiß um seine Bedeutung im Staatsrat und als Vertrauter der Königin. Er verkörpert abscheulich perfekt den Opportunisten und schamlosen Wendehals. Teuflisch eloquent erschleicht er sich die Gunst beider Frauen, baggert scheinbar triebgesteuert sogar Elisabeth an und macht sich unentbehrlich. Eiskalt und nur auf seinen Vorteil bedacht, zieht er die Fäden und lässt andere für seine Missetaten über die Klinge springen – mit Erfolg.

Lucas Umlauft als Baron von Burleigh braucht sich erst gar nicht zu verstellen. Er passt sich niemandem an, weil er derjenige ist, der die Fäden zieht. Selbstverliebt und kompromisslos, aalglatt und durchtrieben kommt er der Regentin sehr gelegen, die die Drecksarbeit lieber anderen überlässt. Entsprechend glasklar und schneidend ist seine Sprache.

Marcus Chiwaeze, Graf von Shrewsbury, ist wohl der Königin gegenüber loyal, hat hehre Absichten, so der äußere Anschein, und plädiert für Barmherzigkeit gegenüber Maria, doch auch er ist sich selbst der Nächste und feige. Sein meist gequälter Gesichtsausdruck, die sparsame Mimik lassen „Zahnschmerzen“ vermuten und erst am Ende, als es darum geht, Marias Hinrichtung zu verhindern, gewinnt er an Linie – zu spät. Wieviel Resignation steckt in seinem Abschiedsspruch: „Lebe, herrsche glücklich! Die Gegnerin ist tot. Du hast von nun an nichts mehr zu fürchten, brauchst nichts mehr zu achten.“

Yannick Fischer als Paulet,der Maria bewachen muss, hat Achtung vor dieser Frau. Natürlich sind ihm die Hände gebunden, aber er beteiligt sich nicht an Folter und Grausamkeiten. Sie schätzt ihn, und als sie ihm vor ihrem Tod ihr Testament für Elisabeth aufträgt, kämpft er mit den Tränen. Der „Murder Song“ am Ende passt wohl am besten für ihn – im positiven Sinne.

Leo Goldberg ist als Mortimer noch dem „Sturm und Drang“ verhaftet. Ungestüm und leidenschaftlich will er Maria befreien, ist damit jedoch überfordert, verstrickt sich in Intrigen und ist das eigentliche Opfer.

Pauline Gloger spielt in einer Doppelrolle zunächst den französischen Brautwerber, der die Queen in Flötentönen umschmeichelt und nach seinem Misserfolg übelst schimpfend den Hof verlässt. Später verdient er als Staatssekretär Davison vollstes Mitgefühl, als die Königin ausgerechnet ihm aufträgt, das Todesurteil vollstrecken zu lassen.

Während der gesamten Vorstellung hätte man eine Stecknadel fallen hören können, umso gewaltiger fiel der Schlussapplaus aus, der die sichtlich erschöpften Schauspieler immer und immer wieder mit Ovationen belohnte.

Es muss nicht immer Oper sein. Meiningen hat noch unendlich mehr zu bieten: ein hochprofessionelles Schauspielensemble mit einem charismatischen Direktor, der gerade mit diesem Werk brandaktuell und klassisch zugleich Schillers Ideale zu neuem Leben erweckt.

Inge Kutsche, 23. Januar 2023


„Maria Stuart“

Friedrich Schiller

Meiningen

Besuchte Premiere am 20.01.2023

Inszenierung: Frank Behnke

Bühne und Kostüme: Michael Lindner

Musik: Matthias Schubert

Dramaturgie: Cornelius Benedikt Edlefsen

Weitere Vorstellungen: 26.01., 04.02., 25.02., 03.03., 08.03., 12.03., 09.04. & 20.05.