Budapest: „Siegfried“

am 19.3.

Fantasy-Siegfried in positivistischer Endzeitstimmung

Ähnlich dem Satyrspiel in der antiken attischen Tetralogie fungiert Siegfried als Bindeglied zwischen der Walküre und der Götterdämmerung. Und obwohl auch im Siegfried gemordet wird, überwiegen doch die komischen Elemente bei weitem. Und so entfaltet sich vor den Augen und Ohren des Publikums – bei aller Tragik – jene fesselnde Mischung an menschlicher wie göttlicher Tragikomödie. Melpomene und Thaleia um die Gunst des Publikums buhlend. Unter diesem Motto schien für mich auch das Konzept des ungarischen Zeichentrickfilmregisseurs Géza M. Tóth in seiner Version des Siegfrieds zu stehen. Das Animations Studio Kedd Kreativ Mühely lieferte ihm dafür auch die vielfachen Einblendungen, mit denen bereits während des Orchestervorspiels der dunkle Wald, in welchem sich Mimes Felsenhöhle befindet, angedeutet wird.

Auch hier waren für mich wieder starke Reminiszenzen an die von Günther Schneider-Siemssen (1926-2015) entwickelten holographischen Bühnenbilder, die dieser seit 1985 in seinen Bühnenbildern zum Einsatz brachte, gegeben. Der Regisseur hat sich offenbar an seiner Technik orientiert, diese verfeinert und auf den neuesten Stand gebracht. Gemeinsam mit seiner Dramaturgin Eszter Orbán verfolgte der Regisseur auch im Siegfried konsequent den einmal eingeschlagenen Weg einer an Computer-Animationsfilmen angelehnten visuellen Ästhetik. Bei der baulichen Gestaltung der Bühne stand ihm wiederum Gergely Z. Zöldy zur Seite. Aus dem Dickicht des Waldes löst sich langsam die Felsenhöhle heraus, in der Mime, gekleidet wie ein holländischer Kaufmann mit Wams und typischer Kappe, wie man sie in manchen Selbstbildnissen von Rembrandt Harmenszoon van Rijn antrifft, vergeblich versucht, ein starkes Schwert für Siegfried zu schmieden. Dieser tritt dann auch konsequent mit einem Bären an der Leine auf und hetzt diesen in sadistischer Lust auf Mime. Siegfried trägt natürlich seine robuste Krachlederne und obendrein auch lange Haare (wer sollte ihm diese auch im Wald schneiden?).

Auftritt Gottvater Wotan, der inkognito als Wanderer die Welt durchschreitet. Interessantes Detail am Rande, was wohl von der Kostümbildnerin Ibolya Bárdosi nicht intendiert war, ist der weiße lange Mantel des Wanderers, den dieser rechts über links, also wie es bei Frauen üblich ist, geschlossen hält. Als studierter Theologe weist das für mich auf den ersten Schöpfungsbericht in Gen 1,27 hin, wo Gott den Menschen gleichzeitig als Mann und Frau nach seinem Abbild schuf, dieser also gleichsam „androgyn“ konzipiert wird. Aber dieser Wanderer durschaut als einäugiger und somit „wissender“, aber nicht „allwissender“ alttestamentarischer Gott Mimes Ränke und fordert ihn zur Wissenswette. Widerwillig lässt sich Mime darauf ein und spannt gleich einmal Wotans Unterarm in einen Schraubstock, den er nach jeder Frage um eine Drehung enger zieht. Einen Gott kann das jedoch nicht festhalten. Nach der dritten Frage steht er unbekümmert auf, wer, wenn nicht Enkel Siegfried, könnte schon einen Gott aufhalten? Im zweiten Akt sehen wird dann in der Bühne einen kosmischen Krater, in den man über eine Leiter hinabsteigen kann. Er ähnelt entfernt einer Detektorenstelle eines Teilchenbeschleunigers. In ihm aber befindet sich Fafners Neidhöhle, in der er den Nibelungenschatz hütet. Hier soll Siegfried endlich das Fürchten lernen. Dieser aber klettert behände in Fafners unterirdischen Bunker und tötet diesen. Der Genuss von Fafners berauschendem Blut, lässt den infantilen Rüpel Siegfried mit einem Mal die Sprache des Waldvogels verstehen und ihn darüber hinaus bereit zum Ziehvatermord werden, da er nun die wahren Absichten von Mime erahnt. Und der Waldvogel in Person geleitet Siegfried dann auch zum Walkürenfelsen, wo dieser noch schnell Opas Verträgespeer zerspellt, um endlich seine Tante Brünnhilde aus dem komatösen „Dornröschen“-Schlaf wach zu küssen. Im Feuerschein tanzen angeblich Gnome, die wie flügellose Vögel erscheinen und eigentlich zu vernachlässigendes Element in dieser Inszenierung bilden. Brünnhilde liegt auf einem Tisch in ihrer blauen Brünne. Eine eingezogene Ebene über ihr ist Siegfried und blickt auf sie hinab. Pantomimisch löst er dann mit seinem Schwert die Rüstung und der bloß eingeblendete blaue Panzer Brünnhildes weicht nun einem weißen Kostüm, Symbol der Jungfräulichkeit der Walküre. Das Happy End ist allgemein bekannt…

Für die Premiere des Siegfried hat die Ungarische Staatsoper gleich drei international renommierte Sänger verpflichten können. Als Wotan trat der lettische Bassbariton Egils Siliņš würdevoll und stimmlich ausdrucksstark bei klarer Diktion auf. So hatte ich ihn bereits im Juni 2013 in Riga erleben und in bester Erinnerung behalten können. Der aus Augsburg gebürtige deutsche Tenor Jürgen Sacher hat die Rolle des Mime bereits in der Hamburger Neuinszenierung des Ring des Nibelungen 2008/09 gesungen. Er lieferte ein Kabinettstück an Wortwitz und ausdrucksstarken Gesten, etwa, wenn er den unliebsamen Wotan am liebsten hinterrücks mit einer riesigen Kneifzange am Hals packen möchte oder später dessen Unterarm während der Wissenswette in einen Schraubstock genüsslich sperrt. Sein Charaktertenor ist in dieser Rolle ideal, er singt nicht nur textverständlich, sondern geht in der tragisch-komischen Rolle des Zwerges völlig auf. Den schwedischen Bariton Marcus Jupither konnte ich ebenfalls schon in Riga 2013 in der Rolle des Alberichs bewundern. In seiner Auseinandersetzung mit Wotan konnte er diesem Paroli bieten, zu ähnlich sind sich ja da der Schwarz- und der Weißalbe, zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Und haushochüberlegen ist er natürlich seinem Bruder Mime, dem es einfach an forschem Geist mangelt und der stets nur in seinem Kleinkrämertum verharrt.

Für die Rollen von Siegfried, Brünnhilde, Fafner, Erda und Waldvogel konnten für die Premiere die besten Kräfte Ungarns gewonnen werden. Nach seinem beeindruckenden Siegmund im Vorjahr wagte sich István Kovácsházi, Mitglied des Nationaltheaters Mannheim, nun an die Rolle des jungen Siegfried heran. Er hat im deutschen Heldentenorfach bereits den Lohengrin, Tannhäuser, Parsifal, Bacchus und Kaiser gesungen. Mit Spannung erwartete ich daher sein Rollendebüt als Jung-Siegfried. Und man muss es als gelungen bezeichnen, wenngleich er nicht sofort den exakten sprachlichen Rhythmus fand. Aber schon nach wenigen Minuten hatte sich dieser Mangel, der der Premierennervosität geschuldet sein mag, gelegt. Und der Sänger bot, was ich von ihm erwartet hatte. Einen höhensicheren Siegfried, der auch sämtliche Spitzentöne beim Schwertschmieden einwandfrei traf und auch im finalen, sich steigernden Gesang um die Gunst Brünnhildes stimmlich nicht erlahmte und Ausdauer bewies. Eszter Sümegi fügte nach der Sieglinde im Vorjahr ihrem Repertoire nun ihre erste Brünnhilde hinzu. Die Siegfried-Brünnhilde ist ja bekanntlich am höchsten geschrieben und so bange ich stets um die vier hohen Töne am Ende, die ich so oft schon bei anderen Interpretinnen völlig verpatzt hören musste. Nicht so bei dieser Ausnahmekünstlerin. Sie konnte jeden dieser gefürchteten Töne nicht bloß ansingen, sondern auch halten, wodurch sie sich eigentlich an die großen Bühnen von Wien bis New York empfehlen würde. Und auch darstellerisch ließ sie keine Wünsche offen und machte den Wandel von der scheuen Jungfrau zum lodernden liebestollen Weib nachvollziehbar. Armer Siegfried, jetzt wird sie dich das Fürchten erst so richtig lehren… István Rácz dröhnte furchterregend mit seinem eindringlichen Bass als Fafner aus der Tiefe seines endzeitlichen Bunkers. Bewegen musste er sich kaum, denn Siegfried tötete den Sitzenden rücklings mit dem Schwert. Erika Gál verlieh Urmutter Erda wohlige Tiefe, durfte allerdings in ihrem blauen Kostüm nur bis zur Taille an der Erdoberfläche erscheinen, bevor sie Wotan in den ewigen Schlaf entließ. Zita Szemere zwitscherte nicht nur optisch als beherzter Waldvogel mit glockenhellem Sopran durch die Szene.

Dem jungen Generalmusikdirektor der Ungarischen Staatsoper Péter Halász gelangen am Pult des Orchesters der Ungarischen Staatsoper viele wunderschöne Momente. Etwa das „Waldweben“ mit seiner lyrischen Ruhe und hypnotischen Wirkung im zweiten Akt, aber auch das Vorspiel zum dritten Akt und die Verwandlungsmusik zum Brünnhildefelsen, die er mit lebhafter Dynamik zu unterlegen verstand. Die Streicher musizierten insgesamt auf höchstem musikalischen Niveau, hervorzuheben waren auch die Celli und die Viola da braccio, die mit ein Garant für die formvollendete Umsetzung der Partitur an diesem bildeten.

Der Applaus am Ende fiel großzügig aus. Die Gäste wurden mit Bravorufen bedacht, aber auch die heimischen Künstler wurden davon nicht ausgespart und Eszter Sümegi erhielt sogar einen Strauß roter Rosen auf offener Bühne ausgehändigt. Auch das Regieteam konnte sich durch den wohlwollenden Applaus des Publikums in seiner Arbeit bestätigt erachten. Man kann also gespannt auf die Götterdämmerung im nächsten Jahr warten.

Harald Lacina, 21.3.2017 Fotocredits: Szilvia Csibi