Palau de les Arts Reina Sofia – Aufführung am 31.5.17 (Premiere am 20.5.)
Gar nicht süßlich
Diese letzte Vorstellung einer Serie von Jules Massenets Oper im Großen Saal des immer wieder beeindruckenden Baus des Architekten Calatrava hinterließ ihren stärksten Eindruck durch das Dirigat und die gesangliche Leistung des Interpreten der Titelrolle. Henrik Nánási erwies sich als des ihm vorauseilenden Rufes mehr als würdig, denn es war atemberaubend, was er aus dem gerade im ersten doch teilweise geschwätzigen Teil herausholte. Er ließ diese nicht kitschfreien Szenen wie im Flug vergehen, um dann im zweiten Teil die Tragödie voll auszuloten und mit dem Orquestra de la Comunitat Valenciana hochdramatische, aufwühlende Wirkung zu erzielen. Als Zuschauer und vor allem -hörer lebte man mit Werther mir, dies um so mehr, als Jean-François Borras das, was er uns als Schauspieler vorenthielt, gesanglich glanzvoll umsetzte. Seine immer gut gestützten Piani beeindruckten ebenso wie seine strahlenden Höhen und seine Phrasierung, die an die vorbildliche französische Schule eines Alain Vanzo oder Georges Thill erinnerte. Wäre der Tenor szenisch überzeugender, hätte er in diesem Fach kaum Konkurrenz.
Enttäuscht wurde ich hingegen von Anna Caterina Antonacci, die sich seit ihren Anfängen mit einer hybriden Nicht-Fisch-Nicht-Fleisch-Stimme eine bedeutende Karriere als Singschauspielerin erarbeitet hatte, und die ich zuletzt vor drei Jahren an der Scala als Cassandre in Berlioz‘ „Troyens“ bewundern konnte. Hier besaß ihre Stimme keinerlei Mezzoschattierung, die Mittellage sprach überhaupt nicht an, die tieferen Noten wurden fast gesprochen. Zudem schien sie sich im ersten Teil auch als Figur nicht wohlzufühlen, während sie im zweiten ihre Fähigkeiten als Tragödin ausspielte und den dramatischen Stellen der Briefszene auch stimmlich besser entsprach.
Die Sophie der Baskin Helena Orcoyen hatte den rechten silbrigen Klang und war auch szenisch sehr präsent, weil die Regie von Anfang an ihre Schwärmerei für Werther hervor strich. Die Arbeit von Regisseur Jean-Louis Grinda möchte ich generell als gelungen bezeichnen, obwohl er die Handlung als Rückschau des sterbenden Werther inszenierte, der während des Vorspiels seine Fieberphantasien vor einem Spiegel ausleben und den ganzen Abend sein blutverschmiertes Hemd tragen musste. Positiv sind die pausenlosen Übergänge zwischen dem ersten und zweiten bzw. dritten und vierten Akt zu bewerten, sowie die liebevolle Führung der (sämtlich aus dem Centro de Perfeccionamiento Plácido Domingo rekrutierten) Nebenpersonen. Viel hat Grinda seinem Lightdesigner Laurent Castaingt zu verdanken, der immer die richtige Atmosphäre schuf, speziell im 3. Akt, wie er die vor einem Klavier sitzende Charlotte während „Pourquoi me réveiller“ herausleuchtete, dass sie wie ein Gemälde wirkte. Gelungen auch die einem Wald nachempfundenen Bühnenbilder von Rudy Sabounghi und die Kostüme desselben Künstlers. Ein Höhepunkt war das von Nánási intensiv aufgepeitschte Zwischenspiel vom 3. zum 4. Akt mit der filmischen Einblendung Antonaccis, die atemlos durch eine verschneite Allee läuft (Video: Julien Soulier).
Die jungen Künstler, die zwei Jahre im Centro studiert hatten, zeigten, dass sie diese Zeit nicht vergeblich verbracht haben. So waren der Deutsche Michael Borth ein souveräner Albert, den Typ trockener Buchhalter verkörpernd, Alejandro López (Bailli), Moisés Marín (Schmidt), Jorge Álvarez (Johann) kraftvolle Vertreter der Anhänger des Bacchus und Fabián Lara ein fescher Brühlmann, von dem man gerne mehr als Кlopstock gehört hätte. Gesanglich tadellos und szenisch unbefangen zeigten sich die zahlreichen Kinder des Bailli, die, als Engel mit Flügeln gekleidet, den sterbenden Werther umstanden – offenbar ein (diskutabler) Hinweis der Regie auf Weihnachten.
Das konzentrierte Publikum dankte den Künstlern am Schluss begeistert, mit Ovationen für Borras und Nánási.
Eva Pleus 8.6.14
Bilder: Miguel Lorenzo und Mikel Ponce