Wien: „Anatevka“, Jerry Bock

„Anatevka“ wird bald 60 Jahre alt und hat sich dank zeitloser Qualitäten als eines der Spitzenwerke des Genres „Musical“ auf den Spielplänen erhalten. Vor allem bis zur Pause wird die Tradition des ostjüdischen Stadtls in der Handlung wie der Musik geradezu unwiderstehlich beschworen, jüdischer Witz, Frömmigkeit, Familienbeziehungen gefeiert. Nach der Pause schlittert das Werk in eine Düsternis, die jenseits des Unterhaltungsanspruchs ihre Wirkung tut, weil hier das jüdische Schicksal von Verfolgung und Vertreibung markant nachgezeichnet wird.

(c) Volksoper

Die Volksoper hat nun ihre Inszenierung von Matthias Davids aus dem Jahr 2003 wieder aufgenommen, die das Werk brav vom Blatt spielt, und Besseres kann man damit nicht tun, denn jegliche „Interpretation“ darüber hinaus würde es nur ruinieren.

„Anatevka“ ist eine Frage der Besetzung, und da machte die Volksoper mit Dominique Horwitz neugierig, einem glänzenden Schauspieler, den man in Film, Fernsehen und einmal an der Josefstadt immer eindrucksvoll gesehen hat. Dass er singen kann, scheint seine Vita auszuweisen, die Erfolge mit Brecht /Weill-Abenden und Jaques Brel-Chansons verzeichnet.

Und am Gesang liegt es nicht, wenn man letztendlich enttäuscht ist – und wohl auch nicht an Dominique Horwitz selbst. Er kann nichts dafür, dass er für den Tevje zu scharf wirkt, für das Musical zu schroff und wohl auch ein wenig zu steif, dass ihm das Väterliche der Rolle ebenso fehlt wie der gewisse Charme und Schmäh, die Tevjes Gespräche (wohl eher Argumentationen) mit Gott vergolden. Das wunderbare Flair des Ostjudentums, hier unabdingbar, fehlt ihm total. Dass Horwitz ein „echter“ Jude ist, tut da nichts zur Sache – Schauspielerei ist das „Als ob“: Nicht, was einer ist, sondern was er uns glauben machen kann, ist das Entscheidende. Horwitz kann keinen Tevje glaubhaft machen, den man lieben muss. Da hat sich ein exzellenter Schauspieler zu einer für ihn falschen Rolle verführen lassen.

(c) Volksoper

Im Übrigen bietet die Volksoper unter der flotten musikalischen Leitung von Freddie Tapner (nur manchmal schwammen Orchester und Chor nebeneinanderher) eine stimmungsvolle, gut besetzte Aufführung. Tevje hat in Regula Rosin eine Golde, die sich redlich am trockenen jüdischen Humor illusionsloser Frauen versucht. Martina Dorak ist, so hübsch, flott und total unjüdisch wie sie wirkt, alles andere als eine jüdische Heiratsvermittlerin, aber gewinnt einfach wie immer durch ihr Wesen. Drei charakterfeste Töchter (Anita Götz, Lisa Habermann, Vanessa Zips) bekommen drei charakterstarke Männer (Oliver Liebl, Peter Lesiak, Martin Enenke). Stützen des Ensembles setzen sich selbst in Nebenrollen ein – Marco Di Sapia, Sebastian Reinthaller (als zögerlicher Rabbi kaum zu erkennen) oder Nicolaus Hagg.

Der Beifall im gut gefüllten Haus klang herzlich, wenn auch nicht enthusiastisch.

Renate Wagner, 4. März 2023


Jerry Bock: Anatevka

Volksoper Wien

Aufführung am 3. März 2023

Inszenierung von Matthias Davids

Dirigat: Freddie Tapner

Orchester der Volksoper

Trailer