Wien: „Das verratene Meer“, Hans Werner Henze

Premiere: Streaming am 14. Dezember 2020

Henze Meer Szene Xx~1

Henze Meer Szene Xx~1

Man kommt nicht umhin zu wiederholen, was mittlerweile schon alle geschrieben haben: Es ist die erste echte Premiere der Ära Roscic. Was bisher war, kann unter „Reste-Verwerten“ fallen. Eigene Reste (Kupfer-Elektra, Konwitschny-Carlos, französisch), fremde Reste (Butterfly von überall her, Stuttgarter Entführung, Onegin, der auch schon allerorten zu sehen war).

Nun tritt das Duo Wieler / Morabito an, das Roscic ans Haus geholt hat (eigentlich ein Trio, wie man hört, denn ohne Anna Viebrock als Ausstatterin geht es nicht). Als „modernen“ Beitrag zum Spielplan haben sie sich ein 30 Jahre altes Werk von Hans Werner Henze gewünscht, das kaum je gespielt wird. „Das verratene Meer“.

Wie kann man ein Meer „verraten“? Die Geschichte erzählt es, und sie ist inhaltlich seltsam genug. Sehr japanisch, sehr Yukio Mishima, der hierzulande eigentlich keine Sympathien genießt – zu „rechts“, zu nationalistisch. Geht es wirklich um die einsame Witwe Fusako, die ein neues Glück ersehnt? Geht es um den Seemann Ryuji, der bereit ist, irgendwann an Land zu bleiben? Doch weit eher um Noboru, Fusakos pubertierenden Sohn, der einer ideologiegetränkten Jugendbande angehört. Geht es nicht vielmehr um die fünf Jungen, die nur mit ihren Nummern identifiziert werden und ihre seltsamen Gedankenwelten spinnen? Und die bereit sind, wenn man sie enttäuscht (ein Seemann, der das Meer „verrät“, muss bei ihnen gleich sterben), zu letalen Mitteln zu greifen? Ist das ein Opernstoff? Zumal das Libretto von Hans-Ulrich Treichel von ziemlich literarischer Künstlichkeit ist.

Nun, Henze selbst hat nie gefragt, wie gefällig die Geschichten sind, die er sich hernahm (so wenig wie etwa Benjamin Britten). Im Grunde hat die Nachwelt entschieden – angesichts der Popularität des Komponisten ist „Das verratene Meer“ nach der Uraufführung 1990 in Berlin kaum noch nachgespielt worden. Natürlich, die Japaner wollten das Werk sehen, es ist ja ihr Stoff. Da hat Henze dann an der Fassung gearbeitet.

Wie immer, wenn es Fassungen gibt, erfreuen sich Dramaturgen, Regisseur und Dirigenten, wenn sie ihrerseits etwas zusammenbasteln können. Das Publikum hat von diesen Überlegungen nichts (siehe die Mühsal, die man uns mit den verschiedenen Leonoren bereitet hat). Für die Zuschauer zählt, ob das, was sie auf der Bühne sehen, auch überzeugt.

Es ist eine düstere Welt, in die man zu flirrender Musik einsteigt, nicht zuletzt wegen der trostlosen Einheitsszenerie, die Anna Viebrock auf die Bühne stellt. Da läuft eine bürgerliche Tragödie ab, die vor allem als Generationskonflikt aufzudröseln ist. Die Regisseure Jossi Wieler & Sergio Morabito ziehen gegen Ende die krimi-artige Schauergeschichte stark an, erzählen aber im Grunde geradlinig (dankenswert, ohne die jungen Männer zu Neonazis zu machen), denn diese reizlosen Alltagsgeschichten sind schwer genug zu vermitteln.

Die beiden Erwachsenen – Vera-Lotte Boecker (der auch einige wilde Koloraturen in die Kehle gelegt werden, um Gefühlsverwirrung zu singen und die, teilweise im Japan-Look, am Ende das Gesicht maskenhaft geschminkt bekommt) und Bo Skovhus (der überzeugend den Seemann-Look mitbringt) – sind sympathisch, man glaubt ihnen die Zuneigung, die Hoffnung auf Glück – und die Schwierigkeiten mit der Jugend.

Henze Keer Die Zwei

Josh Lovell lässt mit schneidendem jugendlichem Tenor (und einer angedeuteten japanischen Frisur) den Zorn der Jugend an einer Erwachsenen-Welt hören, die sie nur anklagen können. Das tun auch die vier Kollegen sehr überzeugend: Es wurde gar nicht der Versuch gemacht, sie allzu jugendlich scheinen zu lassen, es sind gefährliche junge Männer in Anzügen und mit Wut-Potential: Erik Van Heyningen ist ein kraftvoller Anführer, Kangmin Justin Kim (als Counter erkennbar), Stefan Astakhov und Martin Häßler vermitteln das, was Henze mit dieser Oper wohl sagen wollte. Eigentlich ist es eine schreckliche Geschichte, vor allem am Ende, wenn fünf junge Menschen sadistisch zum Mord schreiten und das Orchester dazu aufschreit.

Musikalisch entfaltet der Abend mit Hilfe von Simone Young seine ganze beeindruckende musikalischen Reichhaltigkeit, den Drive der „Handlungs-Szenen“ und den Reiz der Zwischenspiele.

Aber seien wir ehrlich: Ob „Das verratene Meer“ wirklich ein so großer Wurf Henzes war, dass man das Werk unbedingt jetzt ausgraben und zur Österreichischen Erstaufführung bringen musste – das ist nicht wirklich überzeugend bewiesen worden, bei allem Respekt vor den Ambitionen der Direktion.

Renate Wagner, 15.12.2020

Foto: Wiener Staatsoper / Pöhn

P.S.

„Das verratene Meer“ wird am heutigen Dienstag, 15. Dezember 2020 ab 19.30 Uhr in Radio Ö1 ausgestrahlt, der Stream vom 14. Dezember wird am Montag, 21. Dezember 2020 erneut auf play.wiener-staatsoper.at gesendet (weltweit und kostenlos).