Wien: „Dornröschen“, Tschaikowsky/Schläpfer/Petipa

Fulminanter Saisonschluss

Mit der Vorstellung von Martin Schläpfers Dornröschen wurde die Ballettsaison an der Wiener Staatsoper abgeschlossen, ein letztes Mal gab es die Möglichkeit, Tänzer wie Hyo-Jung Kang, Marcos Menha, Claudine Schoch und Yuko Kato im Haus am Ring zu erleben, denn ab Herbst übernimmt Alessandra Ferri die Leitung des Wiener Staatsballetts und damit gibt es – wie bei jedem Direktionswechsel – Änderungen im Ensemble. Eine schöne Geste, dass beim Schlussapplaus nicht nur der scheidende Ballettdirektor Martin Schläpfer, sondern auch die Tänzer, die von der neuen Direktion nicht übernommen werden, Blumensträuße erhielten und ein letztes Mal vom Wiener Publikum bejubelt wurden. Hier darf ich anmerken, dass Herr Schläpfer selbst an seinem letzten Abend und zahlreichen Bravorufen bei seinem Erscheinen den Vortritt auffallend rasch seinen Tänzern überließ. In den letzten 20 Jahren gab es ja 4-mal einen Wechsel auf dem Chefposten und unterschiedliche Abschiede. Schläpfer dürfte als reflektierter Teamplayer in Erinnerung bleiben.

© Ashley Taylor

Unter der schwungvollen Leitung von Robert Reimer spielt das Orchester der Wiener Staatsoper Tschaikowskys schwelgende Musik imposant und präzise – trotz Sommerhitze! Im 2. Akt wird aus der Konserve ferne Landschaft II von Toshio Hosokawa eingespielt, nachdem seit der 2. Aufführungsserie ein „Vertanzungsverbot“ von der ursprünglichen Musik Giacinto Scelsis erfolgte. Die Wahl des neuen Stücks ist tatsächlich ein Gewinn, da man nicht mehr unwillkürlich an erste Geigenstunden erinnert wird…

In Schläpfers Version werden einige Rollen aufgewertet, amüsante Momente gibt es, wenn die vier Prinzen (hervorragend: Rashaen Arts, Zsolt Török, Arne Vandervelde und Géraud Wielick) untereinander einen Konkurrenzkampf abliefern und dem Königspaar (hochkarätig: Olga Esina und Masayu Kimoto) wiederum mit einer überfreundlichen Höflichkeit begegnen. Ebenso bekommen auch die Pagen Adi Hanan, Javier Gonzalez Cabrera und Gaspare Li Mandri ihre solistischen Einsätze, z.B. wenn die Pagin eine Spindel zu verstecken versucht. Während man in zahlreichen „klassischen“ Ballettproduktionen die Halbsolisten in der einen oder anderen Variation kurz tanzen und salopp gesagt den Rest der Vorstellung elegant in der Gegend herumstehen lässt, damit das Hauptpaar bzw. nur die Primaballerina (der grand danseur noble darf als Ballettstange dienen) den Applaus absahnt, ist es erfreulich, dass in aufgefrischten Neuproduktionen auch die sogenannten Nebenrollen mehr Augenmerk erhalten dürfen. Schließlich ist für alle Mitwirkenden der Beruf Balletttänzer ein Knochenjob, der vor nicht allzu langer Zeit bereits in den 30ern beendet war. Heutzutage wird dank Physio und besserer Böden, besserer Schuhe darauf geachtet, dass die Karriere nicht bereits nach 10 Jahren beendet ist. Was auch den Vorteil hat, dass der Ausdruck immer wichtiger wird.

Apropos Ausdruck: eine beispielhafte Erscheinung ist Ioanna Avraam als Fliederfee, die nicht nur eine hervorragende Technik hat, sondern auch in einer Ruhe über die Bühne schwebt und strahlt. Die vielseitige Ballerina ist im September als Myrtha zu erleben und bleibt somit dem Staatsballett glücklicherweise erhalten. Zum Thema Beförderung ist hier noch anzumerken, unter Schläpfer gab es deutlich weniger Beförderungen als unter Legris, aber Schläpfer war derjenige, welche Ioanna Avraam den längst verdienten Titel Erste Solotänzerin zusprach.

© Ashley Taylor

Als Pendant zur Fliederfee ist mit der charakterstarken Claudine Schoch die Carabosse ebenbürtig besetzt. Und eine dramaturgisch schöne Idee ist, dass in dieser Version von Dornröschen nicht alles schwarz-weiß gut-böse dargestellt wird, sondern Carabosse sich tatsächlich mit der Gesellschaft versöhnt und beim Hochzeitsfest im 3. Akt teilnimmt. Die Schweizer Tänzerin ist mit Schläpfer nach Wien gekommen, hat seinen Tanzstil optimal vertreten, vor allem auch in Werken wie Brahms – Ein deutsches Requiem bleibt sie positiv in Erinnerung, aber auch in den Klassikern „Jewels“ sowohl im Emeralds-Teil, in welchem sie ihr Hausdebüt gab, als auch in dem technisch äusserst anspruchsvollen Diamonds-Pas de deux stellte sie ihre Souveränität unter Beweis.

Hyo-Jung Kang ist als Aurora der Inbegriff von jugendlichem Esprit, flink und souverän tanzt sie ihre erste Variation und lässt auch im Rosenadagio (die Königsdisziplin für eine Primaballerina) ihren mädchenhaften Charme spielen. Eine sehr feine Erste Solotänzerin, die man wie Schoch gerne länger in Wien behalten hätte. Ebenso wird man auch dem groß gewachsenen, eleganten Marcos Menha hinterhertrauern, der seinem Dornröschen-Prinzen Profil gibt und in Partien wie Onegin das Wiener Publikum begeisterte.

Für den Beginn des 2. Aktes änderte Schläpfer die Szene, dass der Prinz einer Waldfrau und einem Faun begegnet, die ihn zu Dornröschen führen. Damit entfällt eine Waldidylle von einer Hofgesellschaft des Prinzen, die im 3. Akt bei herkömmlichen Choreographien ohnehin nichts mehr zu tun hat und gibt dem Prinzen auch die Möglichkeit, als Mensch aufzutreten, eigentlich sympathisch. Nebenbei, bisher wäre mir kein Dornröschen 2.0 – Die Herzogin sucht ihren Sohn, der sich im Wald verlaufen hat, bekannt.

Yuko Kato und Kristian Pokorny sind als Waldfrau und Faun im 3. Akt ebenfalls als außergewöhnliche Hochzeitsgäste geladen – auf die Musik vom Pas de deux Rotkäppchen-Wolf.

Kiyoka Hashimoto und Timoor Afshar erfreuen als Prinzessin Florine und Blauer Vogel. Hashimoto war übrigens vor 11 Jahren in der Version von Peter Wright als Prinzessin Florine zu erleben. Damals souverän getanzt, heute luxuriös besetzt, mit der richtigen Portion an Schalk, und einer blitzsauberen Technik.

Im Katzen-Pas de deux wird auf pompöse Katzenmasken verzichtet – die Musik gibt ihren Teil dazu, die Frisur von der geschmeidigen Laura Cislaghi erinnert an Katzenohren, die Choreographie ist eindeutig, Giorgio Fourés beeindruckt als Kater.

In den Kostümen von Catherine Voeffray kommen die vielseitigen, brillant tanzenden Feen Sinthia Liz, Alexandra Inculet, Anita Manolova, Alaia Rogers-Maman und Chiara Uderzo bestens zur Geltung, ebenso beeindrucken Godwin Merano in der Saphir-Variation und Iliana Chivarova und Hanno Oppermann in der Diamant-Variation.

Das Corps de Ballet ergänzt die Szene geschmeidig – auch hier ist ein großes Lob auszusprechen, wie alle Mitwirkenden sowohl die klassischen als auch modernen Elemente gekonnt in einer Vorstellung kombinieren, was heutzutage in einer professionellen Company unabdingbar ist. Präzise Akzente wechseln sich mit biegsamen, fließenden Bewegungen ab, das ist Schläpfers Stil, mit dem er gekonnt die strenge, ästhetische Choreografie Petipas vereinte und damit das „Dornröschen“ wortwörtlich aus 100-jährigem Schlaf erweckte.

Das Publikum belohnte alle Mitwirkenden mit tosendem Applaus, Blumensträuße wurden überreicht, und nun geht es in den verdienten Sommerurlaub.

Wenn man nun die Personalia der Saisonvorschau 2025/26 betrachtet, wird auffallen, dass sich tatsächlich einige Tänzer schon seit der Ballettdirektion von Gyula Harangozo im Wiener Staatsballett gehalten haben – Ausnahmen sind Iliana Chivarova, Eno Peci und Igor Milos, die bereits seit der Ära Zanella im Staatsballett tanzen und dem Wiener Publikum auch nächste Saison glücklicherweise erhalten bleiben. Engagiert in der Ära Harangozo und groß geworden in der Ära Legris sind die Ersten Solotänzer Ioanna Avraam, Olga Esina, Kiyoka Hashimoto, Ketevan Papava, Davide Dato, Masayu Kimoto, sowie die Solotänzerin Rebecca Horner (was dem modernen Repertoire nur zugutekommt, dass sie in Wien bleibt!) und Halbsolistinnen Eszter Ledan und Gala Jovanovic. Während es unter Harangozo nur marginal Beförderungen gab (u.a. auch Corps de Ballet Tänzerinnen Céline Janou Weder und Laura Nistor – kurzzeitig Halbsolistin unter Legris – haben sich kontinuierlich in der Wiener Company gehalten), wurden in der Ära Legris zahlreiche Tänzerinnen vom Corps de Ballet bis zum Rang der Ersten Solistin geradezu hinaufkatapultiert – ein freudiges Wiedersehen wird es ab nächster Saison mit Madison Young geben, welche während der Ära Schläpfer im Bayerischen Staatsballett als Erste Solistin gefeiert wurde und nun wieder nach Wien zurückkehrt.

Vermissen wird man die Tänzer, die mit Schläpfer gekommen sind, wie z.B. Hyo-Jung Kang, Claudine Schoch, Marcos Menha, Brendan Saye, Alexey Popov, Sonia Dvorak, Aleksandra Liashenko, Rashaen Arts, Jackson Caroll, Calogero Failla, Alexandra Inculet, Helen Clare Kinney, François-Eloi Lavignac, Adi Hanan, aber auch Solotänzerin Alice Firenze – seit 20 Jahren Mitglied des Wiener Staatsballetts, unter Harangozo engagiert – verlässt bedauerlicherweise das Wiener Staatsballett.

Katharina Gebauer, 29. Juni 2025


Dornröschen
Ballett von Peter Ilitsch Tschaikowsky
Wiener Staatsoper

29. Juni 2025

Choreografie: Martin Schläpfer/Marius Petipa
Wiener Staatsballett

Musikalische Leitung: Robert Reimer
Orchester der Wiener Staatsoper