Wien: „Parsifal“

Wiener Staatsoper, 21.12.2021

Totenhaus feat. Winterreise feat. Richie W.

Die Wiener Staatsoper hat nun ein ähnliches – und vorweg sehr gelungenes – Experiment auf den Spielplan unter dem Arbeitstitel „Parsifal“ gesetzt. Dabei werden drei Ebenen gleichzeitig bedient – auf Videoeinspielungen eine auf höchstem Niveau gefilmte „Winterreise“, dazu ein Gefängnis- und #metoo – Drama, unterlegt mit der Musik von Richard Wagner.

Der erste und dritte Akt wäre die ideale Spielstätte für „Aus einem Totenhaus“ während der zweite Akt in der Redaktion eines Lifestyle-Magazins spielt. Man sieht den Alltag von Gefangenen, die sich körperlich ertüchtigen, unterstützt von Videosequenzen, die die verschiedensten Tätowierungen der Männer zeigen (interessanter Weise sehr oft in Übereinstimmung mit den Themen, über die in dem Stück von Richard Wagner gerade angesprochen werden). Man sieht auch den Mord an einem sehr androgynen Mithäftling mit einem Schwanen-Tattoo. Dass in dieser Filmsequenz „full frontal nudity“ gezeigt wird macht diese Szene sehr realistisch (in den USA dürfte man das so sicherlich nicht zeigen). Das ganze wird in verschiedenen Zeitebenen dargestellt – der Mörder scheint sich seiner Vergangenheit zu besinnen und reflektiert das, was einst in der Haftanstalt geschehen ist. Warum er seine Haftstrafe zu verbüßen hat, bleibt aber leider im Dunkeln. Eine wichtige Person scheint eine Redakteurin/Fotografin des oben angesprochenen Magazins zu sein, die anscheinend mehr oder minder freien Zutritt zu den Häftlingen hat und diese sowohl in verschiedensten Posen ablichtet, als auch Geschenke für diese mitbringt. Auch die Korruption (Drogenhandel) des Wachpersonals wird immer wieder gezeigt (überhaupt – Kirill Serebrennikov liefert eine wunderbare Personenführung ab, ich verstehe allerdings nicht, dass er nur als verantwortlich für „Regie, Bühne & Kostüme“ angeführt ist und nicht für das gezeigte Schauspiel…). Es gibt hier auch einen alteingesessenen Häftling, der für die Jüngeren eine absolute Autoritätsperson ist und auch eigenhändig einem jüngeren Mann ein „Peckerl“ verabreicht. Der Autor bezieht sich hier augenscheinlich auf die in der russischen Mafia obligaten versteckten Botschaften bei Tattoos. Und dann gibt es auch einen Gefangenen, der seinerzeit ein großer Bandenboss gewesen sein dürfte, da sich seine Mithäftlinge sehr um ihn kümmern. Gesundheitlich geht es ihm nicht sehr gut und anscheinend leidet er auch unter Wahnvorstellungen. Der erste Akt des Dramas endet damit. Szenenwechsel zum zweiten Akt. Wir befinden uns in einer Redaktion, wo das Publikum einen richtigen „Ungustl“ begegnet, der anscheinend der Chefredakteur ist. Die Redakteurin, die wir im ersten Akt kennengelernt haben, weist seine Annäherungsversuche ab, allerdings scheint es, dass sie ihm irgendwie verfallen ist. Na ja.

Eine Überraschung – der junge Häftling, der den Mitgefangenen ermordet hat, erscheint zu einem Photo-Shooting. Hat er Hafturlaub, wurde er wegen guter Führung vorzeitig entlassen – leider bleibt auch dies unbeantwortet. Neben dem Chefredakteur gibt es nur weibliche Angestellte, die den – zugegeben sehr gut aussehenden jungen Mann – umschwärmen, sich kaum daran sattsehen können, wie er sich komplett entkleidet und „hippe Klamotten“ anzieht. Fotos werden gemacht (diese sieht man dann im Großformat auf den Leinwänden oberhalb des Bühnengeschehens). 6 jüngere Redakteurinnen buhlen sehr offensiv um die Aufmerksamkeit des Models, bis es der bereits sattsam bekannten Gruppenleiterin zu viel wird und alle anderen Anwesenden hinauswirft. Nun ist sie an der Reihe, sie hat eine sehr erotische Ausstrahlung und küsst den jungen Mann leidenschaftlich. Dieser wiederum ist darob äußerst verwirrt und es beginnt ein längeres Gespräch, in dem die Frau dem Jüngling anscheinend etwas über ihre Vergangenheit erzählt und ihm wieder an die Wäsche geht. Schlussendlich erscheint der Chefredakteur, es gibt ein Wortgefecht (Inhalt – ?!???) und die Frau erschießt ihn. Ende von Akt 2.

Es dürften viele Jahre zwischen dem Ende des 2.Aktes und dem Geschehen des 3.Aktes liegen. Wir befinden uns wieder im Gefängnis, zuerst offensichtlich im Frauentrakt, zu dem der eine Häftling (Tattoos..), den wir bereits kennen lernen durften, augenscheinlich Zutritt hat. Wir sehen auch die Mörderin vom 2.Akt wieder – sichtbar gealtert. Dann die Überraschung – das „Model“ dürfte wieder nach vielen Jahren eine Straftat begangen haben. Der Mann ist nun um die 50 Jahre alt – und auch er darf aus mir nicht erfindlichen Gründen den Frauentrakt besuchen. Er hält ein Eisenrohr in den Händen (warum wurde das ihm nicht abgenommen ?!??), die Mädels waschen ihn, er bekommt von dem anderen, privilegierten, Häftling sogar ein blütenweißes Hemd, und schon verlässt man den Frauentrakt. Schnitt – jetzt wieder bei den „schweren Jungs“. Da sieht man wieder den kranken Anführer, der eine Urne in den Händen hält, dann auch etwas Asche verstreut, was einem Teil seiner Mitgefangenen sichtlich missfällt und es zu einer Rangelei kommt. Aber – der „Häftling in Weiß“ kommt, begleitet von dem Tätowierer und der Ex-Redakteurin, hält eine Rede, die sehr gut angenommen wird. Im Hintergrund öffnen sich die Tore (was eine sehr schöne Metapher ist), alle stürzen hinaus (der Ermordete mit dem Schwanentattoo ist auf der Leinwand auch wieder lebendig) und der „Held“ bleibt alleine, sinnierend, zurück. Tusch und Ende des Schauspiels, das ich extrem spannend, hervorragend inszeniert und bebildert empfunden habe.

Als Experiment wurde dazu die Musik von Richard Wagners „Parsifal“ gespielt – und das auf allerhöchstem Niveau. Natürlich ist das Orchester der Wiener Staatsoper einer der führenden Klangkörper für seine Werke. Dieses Mal stand als Dirigent Philippe Jordan am Pult. Er dirigierte sehr sängerfreundlich, manchmal etwas (für meinen Geschmack) zu elegisch, konnte aber nichtsdestotrotz den Musikfluss aufrecht erhalten. Die (handgestoppte) Generalpause von 18 Sekunden nach „Ich lachte“ war etwas übertrieben – im Vergleich zu Thielemann in 2005 baute sich auch im Publikum keine so große Spannung auf.

Für mich neu – die Rollen des Amfortas und Klingsor wurden vom gleichen Künstler gesungen, in diesem Fall von Wolfgang Koch, der beiden Anforderungen mehr als gerecht wurde. Ich kann nicht nachvollziehen, warum man den Klingsor nicht Wolfgang Bankl singen ließ, der diese Rolle schon so oft verkörpert hat (und der an diesem Abend aus dem Off den Titurel sang). Das war eine meiner Meinung nach vergebene Chance.

Den mit Recht meisten Applaus erhielt Georg Zeppenfeld als Gurnemanz – ich habe selten eine derart wortdeutliche Interpretation gehört. Eine weltklasse-Leistung. Brandon Jovanovich hat keine Probleme als Parsifal – ähnlich wie JK hat er ein eher baritonal gefärbtes Timbre, war aber sehr höhensicher und ebenfalls wortdeutlich.

Anja Kampe bewies eine gute Mittellage, hatte sehr ordentliche dramatische Ausbrüche, bei denen aber leider der eine oder andere Ton nicht 100%ig gelang.

Die kleineren Rollen wurden einerseits mit Ensemblemitgliedern besetzt, allerdings fand man auch 8 Mitglieder unseres Opernstudios auf der Bühne – was ich sehr gut fand.

Zum Publikum – die Galerie Seite war schütter besucht (Parkett, Logen und Balkon waren fast voll), nach dem zweiten Akt gingen einige Besucher nach Hause. Und dann gab es einen Zeitgenossen, der nach jedem Akt-Ende ein kräftiges „Buh“ von sich gab, was dann wieder „Bravos“ zu Folge hatte. Der Mann buhte dann auch als einziger Nikolay Sidorenko aus, der den jungen Häftling/das Model hervorragend darstellte. Dies war so überflüssig – wenn der Herr Probleme mit der Inszenierung hat, dann soll er einen Leserbrief schreiben. Da es sich um keine Premiere handelt (wo meistens das Leading Team anwesend ist) – warum buhte er? Die musikalische Leistung war außerordentlich!!!

Zusammenfassend – das Experiment ist gelungen, es hilft wenn man den „Parsifal“ schon oft gesehen hat und entsprechend die Handlung kennt. Die Musik und den Originaltext mit einer anderen Handlung zu unterlegen ist sehr spannend, da man doch an und ab Parallelen erkennen kann. Handwerklich passt da alles – man ist als Besucher einfach mehr gefordert. Ich freue mich schon auf die nächste Serie…

Kurt Vlach