Premiere am 14.10.2017
„Endlich“, ist man nach dieser zu Recht heftig umjubelten Premiere versucht auszurufen, „endlich hat DER NUSSKNACKER alles Betuliche, Oberflächliche und (seien wir ehrlich) auch Langweilige des ersten Teils abgelegt.“ Wie oft hat man in Aufführungen den ersten pantomimischen Teil, der sich so in die Länge zog, einfach erduldet und sich auf den zweiten, mit tänzerisch brillanten Delikatessen und Divertissements gefüllten, aber handlungsarmen, Teil im Zuckerland und der Konfitürenburg gefreut. Nun aber ist dank des choreographischen Einfallsreichtums des Zürcher Ballettdirektors Christian Spuck und der szenischen Neufassung durch Claus Spahn (dramaturgische Mitarbeit: Michael Küster) aus dem gefälligen, putzigen Weihnachtsmärchen, das selbst Kinder oft unterfordert hat, ein packendes Handlungsballett geworden.
Ein Handlungsballett, das der Originalvorlage von E.T.A. Hoffmann bedeutend näher kommt als Dumas‘ Bearbeitung, welche Petipa und Tschaikowski als Grundlage gedient hatte. Spahn und Spuck nehmen in ihrer Version das Abgründige, Unheimliche, Ironische, Groteske und Witzige von Hoffmanns Märchen auf, räumen der so wichtigen Nebenhandlung rund um die Prinzessin Pirlipat und die Nuss Krakatuk (bei Hoffmann macht sie gut ein Viertel der Erzählung aus) einen prominenten Platz ein und verzahnen sie geschickt mit der Haupthandlung um Marie. Entstanden ist ein Ballettabend, der von Anfang bis fast zum Ende hochspannend, intensiv und vielfältig wirkt, bei dem weder der Witz noch das Bedeutungsschwangere und leicht Abgründige fehlt, ein Abend, der was zu erzählen und zu sagen hat, ohne gleich mit dem pädagogischen Zeigefinger zu fuchteln.
„Fast bis zum Ende“ deshalb, weil der Abend dann ganz am Schluss allzu sehr ins Revuehafte kippt und vieles, was vorher klug und hintergründig erarbeitet worden war, dann doch durch Luftballons und Varieté (selbst im Zuschauersaal des Opernhauses funkeln Leuchtgirlanden) relativiert wird.
Schon zu Beginn wird das Setting klar: Hunderte von Lämpchen umrahmen das Bühnenportal, die Varieté- und Zirkusatmosphäre wird evoziert (die Bühne wurde von Rufus Didwiszus konzipiert). Ein trauriger, müder Clown (Ina Callejas macht das grossartig) sitzt am Bühnenrand, bläst Luft aus seinem Akkordeon, zwei weitere Clowns betreten die Bühne, stupsen ihren immer wieder einschlafenden Kollegen an, aus den hohlen Geräuschen und einzelnen Tönen des Akkordeons entsteht langsam die Melodie des Tanzes der Zuckerfee, der berühmtesten Eingebung Tschaikowskis aus seinem Ballett. Die beiden tanzenden Clowns begleiten das Geschehen den ganzen Abend hindurch mit konterkarierenden, kommentierenden, mitfühlenden und äusserst variantenreichen Tänzen – mit Yen Han und Matthew Knight sind sie hinreissend besetzt!
Matthew Knight brilliert gar mit einer Steptanzeinlage, welch dann von Yen Han mit Ballettschuhen kopiert wird, nur eines von vielen Beispielen für den feinsinnigen Humor in Spucks Choreografie. Bei NUSSKNACKER UND MAUSEKÖNIG geht es ja nicht einfach um ein Weihnachtsmärchen und einen niedlichen Traum, es geht um die Verwirrung der Gefühle in der Adoleszenz, den Reifeprozess junger Menschen, die erste sexuelle Erfahrung – und eventuell auch um latenten Missbrauch. Denn der „Onkel und Pate“ Drosselmeier, der die Kinder des Medizinalrats mit seinen Zaubereien fasziniert, ist eine gar zwielichtige Gestalt (in einer der schwärzesten Szenen lässt Spuck ihn gleich mit sechs Doubles auftreten!). Dominik Slavkovskỳ zeichnet ihn mit dämonischer Eleganz, nur schon sein Spiel mit den Fingern auf seinem Rücken spricht Bände: Einerseits scheint er die Strippen zu ziehen, andererseits seine übergriffigen Finger im Zaum halten zu wollen. Stupend gemacht.
Faszinierend auch die Marie von Michelle Willems: Erst verträumt, mädchenhaft, mit viel Empathie den vom Bruder verunstalteten Nussknacker herzend, reift sie durch die von Drosselmeier vorgegaukelte Geschichte um Prinzessin Pirlipat zur Teenagerin, überschäumend, leicht verunsichert die Liebe und den ersten Kuss entdeckend. Gerade dieser Pas de deux ist von Christian Spuck wunderbar choreografiert, ganz die Gefühle zweier junger Menschen auslotend, die tänzerische Sprache zwischen klassischen Figuren und Formen und modernem Tanz oszillierend. Ihr Partner, William Moore, bewältigt seine Verwandlungen mit geradezu überwältigender Gestaltung seiner verschiedenen Rollen.
Zu Beginn taucht er schon als Nerd auf, im Pullunder und mit Brille, etwas gelangweilt und verwundert über die Bühne gehend. Doch er ist es dann auch, der der verzauberten Pirlipat den Kern aus der erlösenden goldenen Nuss Krakatuk holt, von Frau Mauserink jedoch in einen Nussknacker verhext wird, sich erst durch seinen Sieg über den Mausekönig in einen Prinzen verwandelt und nach dem Stopp von Drosselmeiers Zauberspiel wieder zum nerdigen Neffen Drosselmeiers wird und nun zusammen mit Marie eben den abschliessenden Pas de deux tanzt. Doch das Stück endet nicht etwa in der berühmten Apotheose, nein, das letzte Wort haben die Mäuse und die Clowns.
In der so wichtigen Nebenhandlung glänzt einmal mehr Giulia Tonelli als Prinzessin Pirlipat. Sie ist das eigensinnige, ja manchmal richtig böse Mädchen, welches das steife Rokoko Zeremoniell am Königshofe mit umwerfender Komik durcheinander wirbelt, dann ist sie die Nuss süchtig gewordene, mit Schnauzbart und Nussknackergebiss Verhexte im gläsernen Sarg, der sich zusehends mit Nüssen füllt und sie zu ersticken droht, in letzter Minute aber von nerdigen Prinzen erlöst wird. Giulia Tonelli tanzt und interpretiert die Rolle mit urkomischer, stets augenzwinkernder Präsenz (auch im zweiten Teil, wo Marie ihr immer stärker gleicht, indem sie die Erfahrungen des Pirlipat-Traumspiels aufnimmt), virtuos, gelenkig – Klasse!
Selbstverständlich haben Christian Spuck und Claus Spahn nicht auf die Filetstücke der NUSSKNACKER – Partitur verzichtet, den Schneeflocken-Walzer, den Blumenwalzer, den Tanz der Zuckerfee. Die Reihenfolgen wurden zwar aus Gründen der neuen Dramaturgie des Stücks umgestellt, was bei einer Nummern-Komposition durchaus zulässig ist. Schneekönigin, Zuckerfee und Blumenkönigin werden als Tanten der Marie am Weihnachtsabend (einige Geschenke und ein Miniatur-Weihnachtsbaum reichen aus) eingeführt. Den ersten Teil beschliesst dann der Zauber des Schneeflockentanzes, mit Elena Vostrotina als Schneekönigin und den Damen des Corps und des Junior Balletts als schwarze Schneeflocken mit Leuchtdioden im stylischen Kostüm. Überhaupt diese Kostüme: Allein schon deswegen würde sich ein Besuch der Vorstellung lohnen – Buki Shiffs Einfallsreichtum und die überaus sorgfältige Umsetzung ihrer entwürfe sind ein Meisterwerk.
So auch die Blumen für die Blumenkönigin (Anna Khamazina) und ihre Doubles. Die Partner der Blumenmädchen traten mit Blumenbärten und nackten Oberkörpern auf- Flower Power pur. Eine Delikatesse im wahrsten Sinn des Wortes dann natürlich der riesige Wagenrad – Tutu der Zuckerfee, bestückt mit vielen bunten Cupcakes – und Viktorina Kapitonova tanzt damit herrlich auf den Spitzen. Von den unzähligen Mitwirkenden auf der Bühne sei noch speziell der der Fritz von Daniel Mulligan erwähnt, der mit umwerfendem Charme den streitlustigen Bruder Maries tanzt.
Auch der Grossvatertanz mit Galina Mihylova und Filipe Portugal gerät zu einem Kabinettstück der ganz besonderen Art, weit ab von den oft zu erlebenden betulichen Peinlichkeiten dieser Szene. Und da sind dann natürlich noch die Boten des Unheils, die Mäuse. Mélissa Ligurgo ist eine dämonische, raumgreifende und bedrohliche Frau Mauserink. In ihrem fantastischen Kleid mit den unheimlichen Moiré Effekten beherrscht sie die Bühne (wirkt wie die böse Stiefmutter aus Schneewittchen oder die dreizehnte Fee aus Dornröschen) und ihre Mausarmee, genauso wie später der Mausekönig von Cohen Aitchison-Dugas.
Wunderbar schmissig klingt die Philharmonia Zürich unter dem leidenschaftlichen Dirigat von Paul Connelly.
Ja, dieser Ballettabend ist anspruchsvoll – und doch auch für Kinder und Jugendliche geeignet. Man soll deren Einfühlungsvermögen in die Seele von Pubertierenden mit all ihren zwischen kindlichen Tagträumen und Ängsten schwankenden Befindlichkeiten nicht unterschätzen. Dieses Ausloten der Psychen haben Christian Spuck, Claus Spahn und natürlich Pjotr Tschaikowski mit ihren jeweiligen Mitteln mit Emotion, Humor und einer Prise Ironie gekonnt umgesetzt.
copyright: Gregory Batardon