Innsbruck: „Il Paride“

Vergnügliches italo-sächsisches Sittengemälde: alle wollen nur das Eine…

Seit 1976 widmen sich die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik der Pflege der Renaissance- und Barockmusik und sind somit das älteste noch bestehende Festival dieser Art. Opernaufführungen der Komponisten von Verdi bis zu den Frühwerken von Mozart bilden einen Schwerpunkt der Festwochen, von denen auch Übernahmen ausgehen wie im vergangenen Jahr Telemanns Flavius Bertaridus. Indessen ist die Produktion des Paride von den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci übernommen worden, wo die Oper 2011 als „neuzeitliche Erstaufführung“ mit der gleichen Besetzung gegeben wurde.

Der Sänger, Instrumentalist und Komponist Giovanni Andrea Bontempi entstammte der venezianischen Schule von Monteverdi und Cavalli und wurde von Heinrich Schütz 1651 an den Dresdner Hof geholt, wo er 1662 zum Anlass einer Hochzeit am sächsischen Hof „Il Paride“ (Paris) als erste Oper für Dresden schrieb, mit der er, noch ganz dem Stil Monteverdis und Cavallis verbunden, eine historische Begebenheit zum Ergötzen der Zuschauer mit allerlei komödiantischen Zutaten würzte.

Prologartig beschreibt der erste Akt, wie es zum Urteil des Paris kam: Discordia – aus gutem Grund nicht zur Hochzeit der Thetis eingeladen – drängt sich in die Hochzeitsgesellschaft und schleudert den fatalen Apfel, den Jupiter, der zu feige zur Wahl der schönsten unter den drei anwesenden Göttinnen ist, dem „Hirten“ Paris überlässt. Dieser Paris ist ein Luftikus, der sich in einer bukolischen Landschaft mit der Nymphe Enone vergnügt, statt von seinem Vater Priamos in Troja das Regierungsgeschäft zu erlernen. Leicht lässt er sich von Venus (und Amors Pfeil) in die Arme der Helena treiben, die er mit deren Zustimmung aus Sparta nach Troja entführt. Dort sah man das Geschehen als gerechte Rache für das an, was man Priamos‘ Schwester Hesione zugefügt hatte. Diese Geschichte wird in der Oper parodistisch erzählt und mit allerhand zusätzlichen komödiantischen Figuren (die könnten von Shakespeare stammen) aus allen möglichen Bevölkerungsschichten vergnüglich aufgepeppt. Die Urfassung der Oper sah 31 Rollen vor, die in der vorliegenden Fassung auf 23 kondensiert worden sind, die wiederum auf neun Sänger verteilt werden, von denen bis zu vier Rollen gesungen werden müssen. Die ursprünglich etwas fünfstündige Oper ist auf drei Stunden eingekürzt worden. Das Aufführungsmaterial wurde von der Dirigentin Christina Pluhar erstellt, anerkannte Spezialistin für solche Unterfangen in der Alten Musik.

Christoph von Bernuth inszeniert eine dezent schlüpfrig-anzügliche Komödie von homophilen Anspielungen hin bis zu einer versuchten Vergewaltigung. Er setzt das Geschehen in einen ganz einfachen großen nachtblauen Bühnenkasten mit Sterne- und Tierdekor, durch den von Zeit zu Zeit im Stile der commedia dell’arte in der Mitte ein blassblauer Vorhang gezogenen wird. Situationsgerecht kommen noch einige erläuternde Requisiten dazu, den Rest erledigen die fantasievollen bunten Kostüme, die von noblem Stil bis zur Altkleiderkammer reichen und stilistisch den Zeitraum von Barock bis zum Heute abgreifen. (Ausstattung: Oliver Helf).

Im Prolog feiern die Götter ihre Hochzeit an einem hohen Tisch auf Barhockern, eine Ungemütlichkeit, der man heute vielfach als Besucher von „Designer“-Restaurants ausgesetzt ist. Von diesem kalten Parnass hebt sich die Idylle ab, in der Paris und Enone sich lieben: flockige Schafe werden aus dem Bühnenboden hochgeklappt; die beiden Liebenden sind in ungebleichte Wolle gekleidet wie moderne Ökos. Enone weiß nicht, wie ihr geschieht, als der Tunichtgut Paris sich mit Helena absetzt. Sie wird gar Ziel eines Vergewaltigungsversuchs und zieht sich Männerkleider an, um sich gegen solche Unbill zu schützen und wird natürlich prompt zum Ziel weiblicher Begierde. Als sie versteht, dass ihre Liebe, die einzig echte in diesem Stück, getäuscht worden ist, scheidet sie aus dem Leben. So bekommt der Schluss der Aufführung doch noch einen nachdenklich machenden Aspekt verpasst; zu Recht, denn es droht der Trojanische Krieg. Doppelter Betrug: Helena hat ihren Mann in Sparta verlassen, Enone hat sich verzweifelt durch den Strick umgebracht. wovon ihre hinter der Tür baumelnden Beine zeugen. Die triumphierende trojanische Herrscherkaste stört das überhaupt nicht. Als aber mitten in die Hochzeitsfeier auch am trojanischen Hofes die in Schwarz gekleidete Discordia mit zynischen Gebärden eindringt, fühlt man sich an Loge im Rheingold erinnert: „ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen“. Mit einem wunderbaren Ostinato klingt die Oper aus.

Christina Pluhar leitete das Barockensemble L’Arpeggiata von einer der Theorben aus. Etwa fünfzehn Musiker – hälftig auf Continuo und Melodieinstrumente verteilt – musizierten präzise und temperamentvoll. Während das überwiegende recitar cantando meistens von Zupfinstrumenten und Continuo begleitet wurde, kamen zur Untermalung der Ariosi Melodieinstrumente mit eigenen Linien zum Einsatz. Das klang sehr gut, wozu auch die gute Akustik im Landestheater beitrug, die das filigrane Klanggeflecht transparent, klar und greifbar im Raum stehen ließ. Das kam naturgemäß auch den Gesangssolisten zugute, die insgesamt durch ihr homogen hohes Niveau überzeugen konnten.

Die Titelrolle gab der Counter David Hansen, der über schönes Stimmmaterial verfügt und es kraftvoll einsetzte, aber leider mit schlechter Textverständlichkeit sowohl in Artikulation als auch Vokalfärbung. Seine geliebte Nymphe Enone wurde von Luciana Mancini mit klarem, schön grundiertem Mezzo gegeben; dazu nahm sie auch mit ihrer anmutigen Bühnenpräsenz das Publikum für sich ein. Die weiteren Sängerdarsteller hatten mindestens zwei Rollen zu verkörpern. Fulvio Bettini gestaltete mit seinem runden wohlklingenden Bassbariton die Rollen des Jupiter, des Priamos – und passend zu beiden Rollen – einen Höfling in Sparta, der gerade mit der Helena ins Bett gestiegen war. Raquel Andueza gestaltete die Rollen der Pallas und der Helena mit stimmschönem, fülligem und warmem Sopran. Hanna Morrison, eine weitere Sopranistin, gab mit ansprechendem Erscheinungsbild die bemerkenswerte Rollenkombination Mutter/Sohn als Venus und Amor und sang diese jeweils kleineren Rollen sehr schön auf Linie. Eine wesentlich größere (aber stumme) Rolle hatte als omnipräsenter Amor die Schauspielerin Katrin Hansmeier zu bestreiten, die mit viel Beweglichkeit, Witz und Charme agierte.

Emilio Gonzalez Toro intonierte mit sauberem, gut verständlichem Tenor die Rollen von Merkur, dem Jäger, dem Koch und mit ausdauernder komödiantischer Gestaltung den sich am Wein der Herrschaft berauschenden Mönch. Sein großes komödiantisches Geschick bewies auch der überwältigende Counter Dominique Visse, der herrlich die misstrauisch-eifersüchtig-eitle Juno gab, als Schmied auch mit seinen Registerwechseln in den Naturtenor die Lacher auf seine Seite brachte und schließlich brillant die Hekuba parodierte: ein Glanzlicht der Aufführung mit etwas schmaler Stimme und vorzüglicher Diktion. Mariana Flores, die in den Eckakten jeweils als Discordia auftrat, sang zwischendurch Helenas Zofe Argenia. Sie konnte die beiden so verschiedenen Rollen sehr gut differenzieren und brachte mit ihrem klaren kraftvollen Sopran bei der Interpretation der Discordia eine tückisch wirkende Schärfe zum Einsatz. Zuletzt sei noch Fernando Guimarães genannt, der als Apollo, Gärtner und Bote drei kleine Rollen verkörperte.

Das Publikum im fast ausverkauften Landestheater bedankte sich für den sehr gelungenen Abend mit rauschendem Applaus für alle Beteiligten. Innsbruck ist immer einen Besuch wert. Vorherrschende Sprache in den Gassen wie im Landestheater: Italienisch.

Manfred Langer, 28.08.2012

Fotos: Rupert Lari