Tecklenburg: „Der Besuch der alten Dame“

Literatur-Klassiker als Musical

Lange musste man in Tecklenburg auf die Deutschlandpremiere des Musicals „Der Besuch der alten Dame“ warten. Nachdem das Werk, welches auf dem gleichnamigen Theaterstück von Friedrich Dürrenmatt basiert, in den Spielzeiten 2020 und 2021 noch abgesagt bzw. korrekter ausgedrückt jeweils um ein Jahr verschoben werden musste, fand am 22. Juli diesen Jahres endlich die Premiere statt. Zuvor war dieses Musical lediglich bei den Thunerseespielen (Uraufführung: 2013), bei den Vereinigten Bühnen Wien (2014) und in Japan (2015) zu sehen.

Damals durch einen Meineid ihrer großen Liebe gedemütigt und verleumdet musste Kläri ihren Heimatort Güllen verlassen. Als Milliardärin Claire Zachanassian kehrt sie nun viele Jahre später zurück. Die Bürger Güllens setzen große Hoffnung in diesen Besuch, um der maroden finanziellen Situation der Stadt zu entkommen. Dennoch echauffieren sie sich gleichzeitig über das seltsame Verhalten der Milliardärin. Bei einem Empfang verspricht Claire eine Zahlung von zwei Milliarden, aufgeteilt auf jeden einzelnen Bürger Güllens. Allerdings gibt es eine Bedingung: Das Geld wird erst ausgezahlt wenn Ihre Jugendliebe Alfred Ill stirbt. Das moralische Entsetzen ist zunächst groß, doch im Verlaufe des Abends zeigt sich, wie die Moral plötzlich ganz neu interpretiert werden kann, wenn Geld und persönliche Vorteile im Raum stehen. Dürrenmatt schuf seinerzeit eine wahrlich spannende Geschichte um Moral, Rache, Schuld und Korruption der Menschheit, die Christian Struppeck, Musical-Intendant der Vereinigten Bühnen Wien, zu einem Musical umschrieb. Hierbei kürzte er einige Personen, insbesondere bei den Begleitungen der Milliardärin, was folglich auch die Streichung der dort bereits vorhandenen Rachehandlungen Claires aus dem Stück nimmt. So sind die drei Begleiter Loby, Toby und Roby im Musical lediglich drei Ganoven, die im zweiten Akt mit „Trio Infernal“ das anwesende Publikum zwar stark begeistern, was der laute Szenenapplaus beweist, ansonsten aber keinen Bezug zu den Geschehnissen vor einigen Jahrzehnten haben.

Gut gelöst ist die Darstellung der jungen Claire und des jungen Alfreds – später auch noch des heutigen Polizisten und damaligen Jungendfreundes Alfreds – durch separate Darsteller, die immer wieder die Erinnerungen an alte Zeiten bildlich und stimmlich auf die Bühne bringen. Ulrich Wiggers liefert zudem eine sehr stringente und logische Inszenierung, so dass man der Geschichte als Zuschauer gut folgen kann. Optisch etwas herausstehend sind im zweiten Akt die Güllener Passionsspiele, die man der anwesenden Presse präsentiert um sich als einen „Tempel der Moral“ darzustellen. Die hierbei gefundenen Widersprüche zwischen Wort und Tat sind gelungen, auch wenn diese eher Revue-artige Darstellung doch etwas mit dem ansonsten eher tragischen Verlauf des Abends bricht. Die Musik von Moritz Schneider und Michael Reed weiß zu gefallen und kommt ohne große Ohrwürmer aus. Sehr gelungen ist das große Duett „Liebe endet nie“ zwischen Alfred und Claire kurz vor dem Finale. Die Liedtexte von Wolfgang Hofer bringen die Handlung in passende Worte.

Das sich bei den Freilichtspielen Tecklenburg die Besetzungen jedes Jahr aufs neue sehen und hören lassen können hat sich inzwischen überregional herumgesprochen. Als „alte Dame“ weiß Masha Karell zu überzeugen, die – nette Randnotiz – in Wien noch als Alfreds Ehefrau Mathilde Ill auf er Bühne stand. Thomas Borchert verkörpert einen glaubhaften Alfred Ill, stimmlich gewohnt stark und schauspielerisch vor allem überzeugend, wenn er sich durch die Güllener Bürger massiv bedroht fühlt. Allgemein in diesem Zusammenhang sehr gelungen, die Darstellung der Frage was ist in dem Fall (schon) Realität und was ist (noch) Einbildung. In den weiteren Rollen gefallen Navina Heyne (Mathilde Ill), Martin Pasching (Bürgermeister), Alexander Di Capri (Lehrer), Benjamin Eberling (Pfarrer) und Andreas Goebel (Polizist). Stark auch das weitere Ensemble sowie der Chor und die Statisterie der Freilichtspiele, die die große Bühne und den Ortskern der Gemeinde Güllen mit Leben füllen. Jens Janke schuf auf der große Naturbühne einen passenden Rahmen mit Bahnhof und Polizeistation auf der rechten Seite, dem Hotel „Zum Goldenen Apostel“ in der Mitte und dem kleinen Laden von Alfred und Mathilde Ill auf der linken Seite. Angedeutet wurde zudem der Weg hinauf zur Kirche.

Verlassen kann man sich in Tecklenburg auch immer auf ein gut eingespieltes Orchesters, welches in diesem Fall unter der musikalischen Leitung von Tjaard Kirsch mit über 20 Musikern stark aufspielt. Auch das stets passende Kostümbild von Karin Alberti hat inzwischen eine Tradition, die dennoch nicht unerwähnt bleiben sollte. Zu sehen ist diese Inszenierung noch bis zum 09. September 2022, die Eintrittspreise liegen mit 35 bis 45 Euro auf einem erfreulich günstigen Niveau, so dass man den Tecklenburger Festspielen auch dieses Jahr erneut eine Medaille für eines der besten Preis-Leistungsverhältnisse verleihen darf.

Markus Lamers, 13.08.2022
Fotos: Stephan Drewianka / Freilichtspiele Tecklenburg