CD: „Das Floß der Medusa“, Hans Werner Henze

Um das Fazit vorwegzunehmen: Dieser jetzt bei dem Label Capriccio auf CD erschienene, bereits 2017 im Konzerthaus Wien entstandene Live-Mitschnitt von Hans Werner Henzes Oratorium Das Floß der Medusa ist in jeder Beziehung uneingeschränkt empfehlenswert. Henze ist ein ungemein starkes, spannendes und aufwühlendes Werk gelungen, das gänzlich unter die Haut geht und den Lauscher ganz in seinen Bann zieht. Es wird von Cornelius Meister und dem ORF Vienna Radio Symphonie Orchestra in all seiner Vielschichtigkeit und Brillanz bravourös vor den Ohren des begeisterten Zuhörers ausgebreitet. Meister dirigiert markant und profund und versteht es darüber hinaus ausgezeichnet, die dramatischen Aspekte der Handlung in erschütternde Klänge umzusetzen. Das Werk entstand in den Jahren 1967 und 1968 und sollte am 9. Dezember 1968 in einer Halle im Hamburger Park zur Uraufführung gelangen. Diese platzte aber und ging im Tumult der damaligen Studentenunruhen gnadenlos unter. Die geplante Radioübertragung der Premiere konnte mithin ebenfalls nicht stattfinden. Stattdessen übertrug der Rundfunk einen Mitschnitt der Generalprobe. Dieses Geschehnis war einer der größten Theaterskandale nicht nur dieser Zeit und resultierte daraus, dass die Politisierung Henzes damals auf großen Widerstand gestoßen war. Näheres zu diesem Thema ist dem sehr informativen Booklet zu entnehmen.

Da es sich hier um ein relativ unbekanntes Werk handelt, seien mir einige Worte zum Inhalt erlaubt, die ich der Einfachheit halber ebenfalls dem Booklet entnehme: Die „Medusa“ war das Flaggschiff eines französischen Geschwaders, das 1816 von La Rochelle aus in See stieß, um die englische Kolonie Senegal am westlichen Zipfel Nordafrikas wieder in den Besitz der Bourbonen einzuverleiben – die Kolonialmacht zeigte Zähne. Am Ende der Reise fuhr die Fregatte ihrem Begleittross davon. Der zukünftige Gouverneur des Senegal, Julien-Désiré Schmaltz, drängte den Kommandanten des Schiffs zur Eile. Er wollte als erster an Land gehen. Doch am 2. Juli fuhr die „Medusa“ kurz vor ihrem Ziel auf den berüchtigten Arguin-Sandbänken auf. Drei Tage lang versuchte man, die „Medusa“ wieder flott zu machen, bis man sich eingestehen musste, dass das leck geschlagene Schiff kentern würde. Rasch waren die Rettungsboote von ranghohen Besatzungsmitgliedern und Beamten der Grande Nation besetzt; für die Mehrzahl der Seeleute und Passagiere blieb nur ein Floß, 147 drängten sich darauf, als man das Schiff verließ…Als es (das Floß) dreizehn Tage später durch bloßen Zufall gesichtet wurde, waren nur noch fünfzehn der Schiffbrüchigen am Leben. Deren Martyrium schilderten zwei der Überlebenden, der Landvermesser Alexandre Corréard und der Wundarzt Henri Savigny in einem Tagebuch…

Dieses Tagebuch bildete den Ausgangspunkt für den Librettisten Ernst Schnabel, als er das Textbuch zu dem Oratorium verfasste. Er schlug das Werk Henze zur Komposition vor und dieser willigte ein. Beide sahen darin eine Allegorie für die Tendenz von Hierarchien zu Unmoral und Unterdrückung – eine politische Allegorie also, an deren Aktualität die beiden nicht zweifelten (vgl. Booklet).Sowohl für Henze als auch für Schnabel stellte der Stoff eine ungeheure Herausforderung dar. Der Komponist hat seine ganze Schaffenskraft in diese bemerkenswerte Arbeit gesteckt, die auf nur einer einzigen Zwölftonreihe beruht. Weiten Sprüngen korrespondieren kleine Schritte. Die Anordnung der Musiker und Sänger im Konzertsaal entspricht dabei einer genau durchdachten Dramaturgie. Links sind die Lebenden und die Blasinstrumente platziert, rechts die Toten und die Streicher sowie in der Mitte das Schlagzeug. Der hier als Frau – La Mort – dargestellte Tod singt logischerweise rechts. Im Lauf des Stückes wechseln immer mehr Choristen und schließlich auch der Mulatte Jean-Charles auf ihre Seite. So merkt man bei einer Aufführung deutlich, wer gestorben ist und wer noch lebt. Die Vorderbühne gehört dem Erzähler Charon, der in der Mythologie die Verstorbenen auf seinem Kahn über den Fluss Styx in die Unterwelt fuhr. Er bildet die einzige Sprechrolle in Henzes Werk; alle anderen, La Mort, Jean-Charles und der Chor, singen. Und das nicht gerade schlecht. Mit gut fokussiertem Sopran und enormem Höhenpotential gestaltet Sarah Wegener eine eindringliche La Mort. Ein runder, sonorer Baritonklang zeichnet den Jean-Charles von Dietrich Henschel aus. Dieser Sänger hat sich in den vergangenen Jahren wahrlich enorm weiterentwickelt. Auf hohem Niveau bewegen sich der von Erwin Ortner einstudierte Arnold Schoenberg Chor und die Wiener Sängerknaben. Der Schauspieler Sven-Eric Bechtolf, der auch als Regisseur tätig ist, gibt den Charon. Hier wird im Großen und Ganzen mit sehr ausgewogenen, runden Leistungen aufgewartet, die die Anschaffung der CD als ausgesprochen lohnend erscheinen lassen. Bei dieser CD dürfte es sich um eine der wichtigsten Veröffentlichungen der letzten Zeit handeln.

Ludwig Steinbach, 3.September 2023


CD: „Das Floß der Medusa“
Hans Werner Henze

Capriccio
Best.Nr.: C5482
1 CD