Stuttgart: „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, Kurt Weill und Bertolt Brecht

Kurt Weills und Bertolt Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ist derzeit wieder an der Stuttgarter Staatsoper zu erleben. Dieser Opernabend, für den Ulrike Schwab (Regie), Pia Dederichs und Lena Schmid (Bühnenbild) sowie Rebekka Dornhege Reyes (Kostüme) verantwortlich zeichneten, geriet zu einem vollen Erfolg. Beim Schlussapplaus waren viele Bravos zu vernehmen. Das Regieteam setzte auf eine gelungene Gratwanderung, die sowohl modern als auch konventionell eingestellten Gemütern einiges zu bieten hatte. Ihre Hochachtung für die Stuttgarter Vorgänger-Inszenierung des Mahagonny-Werkes von Ruth Berghaus bewies Frau Schwab, indem sie den Benares Song, der damals in der Berghaus – Interpretation das Stück abschloss, jetzt an den Anfang stellte.

Mahagonny wird in der Deutung von Ulrike Schwab keine konkrete örtliche Festlegung zuteil. Es ist vielmehr geistig zu begreifen. Hier handelt es sich um eine Phantasiestadt, in der sich der Kapitalismus als Utopie vorstellt (so ein Vertreter der Dramaturgie). Die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen als pure Idee manifestieren sich in einem lediglich imaginierten Ort mit Namen Mahagonny. Der Bühnenraum bietet Platz für vielfältige Assoziationen. Die Bewohner sind hier nicht glücklich. Sie fristen ihr Dasein in einer von Krisen geschüttelten Zeit und begeben sich auf die Suche nach dem Glück. Nachhaltig versucht die Regisseurin, das Verhalten dieser Menschen zu erklären, womit sie auch Erfolg hat. Sie deutet Mahagonny als großangelegten Weltenentwurf, als Option eines Neuanfangs. Auf S. 20 des Programmheftes bezeichnet sie Mahagonny als ein Versuch, ein Wunsch und vielleicht auch eine Sehnsucht. Dahinter muss man allerdings ein großes Fragezeichen setzen. Dieses Spiel mit den Wünschen und Sehnsüchten der Gründer der Stadt erscheint in hohem Maße diabolisch und ist aus diesem Grunde von vornherein zum Scheitern verurteilt. Damit gerät auch die der Oper immanente Kapitalismuskritik in eine ausgemachte Schieflage. Das Ende der Welt ist nahe, die Beteiligten zelebrieren die Utopie des Untergangs (Programmheft S. 20) und das Jüngste Gericht steht unmittelbar bevor.

© Martin Sigmund

Letzteres lassen die Damen Dederichs und Schmid gekonnt in ihre Gestaltung des Bühnenbildes einfließen. Als Spielfläche dient ihnen Michelangelos für die Sixtinische Kapelle in Rom entworfene Gemälde des Jüngsten Gerichts, das von 400 nackten Gestalten dominiert wird. Im zweiten Teil steigen einige von ihnen aus dem Bild heraus und partizipieren splitternackt an einer um zwei goldene Kälber stattfindenden Fressorgie. Die Handlungsträger nehmen das Bild wahr und fangen an, darüber zu reflektieren. Einige von ihnen mutieren zu den Menschen auf dem Bild. Gekonnt integriert das Regieteam Michelangelos auf seinem Jüngsten Gericht zum Ausdruck gekommene Kritik an der damaligen Gesellschaftsordnung in seine Arbeit. Dieser Einfall, die Handlung auf einem der berühmtesten Fundamente der christlichen Kulturgeschichte spielen zu lassen, macht durchaus Sinn, sind die Themen der Produktion doch die Apokalypse und das Jüngste Gericht. Derart wird der von Brecht in das Textbuch integrierten christlichen Ikonographie voll und ganz entsprochen. Ein Kreuz gibt es in dieser Inszenierung ebenfalls. Die Sintflut in Gestalt eines aus einer Regenrinne herabprasselnden starken Niederschlags vermisst man auch nicht. Der Ausgangspunkt von Frau Schwabs Konzept ist in einer Abrechnung mit den Menschen im Sinne einer Utopie zu sehen. Über die beteiligten Personen wird ein Urteil gesprochen und ein Symbol für die Neuordnung der Welt kreiert. Bemerkenswert erscheint der Fakt, dass das Bodenbild auf die gefälligen Kostüme durchschlägt. Diese wirken recht collagehaft. So werden Leokadja Begbick und Jenny als Piratenbräute gezeigt, die sich ihre Kleider von überall her zusammengeklaut haben.

Begbick und Jenny stehen bei Ulrike Schwab im Mittelpunkt des Geschehens. Die Geschichte wird aus ihrer Perspektive erzählt. Zu Beginn, noch während das Publikum seine Plätze einnimmt, sitzen sie, eifrig miteinander diskutierend, vorne an der Bühnenrampe. Die beiden Frauen kann man als Duo infernale ansehen, das sich von Skandalromanen in der Art von Virginie Despentes‘ Baise-moi oder Filmen wie Thelma and Louise inspirieren lässt. Sie sind es, die hier die Hosen anhaben, die Männer nehmen ihnen gegenüber eine untergeordnete Stellung ein. Sie zeigen überhaupt keine Hemmungen, die Herren der Schöpfung mit ihren Revolvern kurzerhand um die Ecke zu bringen. Sie sind schon zwei ausgemachte, kaltblütige Mörderinnen. Ihre Lebensperspektiven sind erloschen und es stehen ihnen keine wirklichen Alternativen mehr zur Verfügung. Als Utopie bleibt ihnen nur noch, sich das ganze menschliche Geschlecht untertan zu machen und es gnadenlos zu unterjochen. Eine naive Grundhaltung geht hier mit einer enormen Brutalität und Radikalität einher, der die stark gebeutelten Männer nicht wirklich etwas entgegensetzen können. Sie haben den von Begbick und Jenny aufgeworfenen neuen Lebensplan vorbehaltlos anzunehmen oder müssen, wie Jim Mahoney, das Zeitliche segnen.

© Martin Sigmund

Das Wesentliche von Mahagonny besteht in einer Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur. Man befindet sich nachhaltig auf der Suche nach dem Glück und besseren Perspektiven. Der die Kapitalismuskritik symbolisierende Taifun wird von den Handlungsträgern nicht als Bedrohung aufgefasst. Vielmehr freuen sie sich über ihn. Auch hier wird erneut der Untergang gefeiert.  Unter diesen Bedingungen ist das Einfließen von Brechts Epischem Theater nicht weiter verwunderlich. Dies ist dem Regieteam trefflich gelungen. Das Orchester ist zunächst unsichtbar im hinteren Teil der Bühne platziert. Der Orchestergraben ist überdeckt und die Spielfläche reicht bis zur ersten Parkettreihe heran – und sogar noch weiter. Eindrucksvoll wird auf diese Weise die vierte Wand durchbrochen. Mit Hilfe eines bespielbaren Steges in das Parkett wird der Zuschauerraum in die Handlung einbezogen. Zudem gibt es noch zahlreiche Brecht‘ sche Gardinen, die das Orchester verdecken. Diesen hier als Utopiegestalter fungierenden Vorhängen kommt nach Brecht die Aufgabe zu, die Zuschauer vom romantischen Glotzen abzuhalten und zum kritischen Nachdenken und Reflektieren über das Gesehene zu bewegen. Das funktioniert hervorragend bis zur Taifun-Szene. Hier werden die Brecht‘ schen Gardinen vom Sturm, genauer gesagt mit den von Begbick und Jenny ins Spiel gebrachten Windmaschinen weggeweht, woraufhin das Orchester sichtbar wird. Außer dem Parkett werden zudem die Seitenlogen des ersten Ranges bespielt. Im zweiten Teil wird ein Freiwilliger aus dem Publikum auf die Bühne geholt und dort symbolisch gekreuzigt. Dann wird ihm von Begbick noch sein Gürtel entwendet. Den bekommt er später hoffentlich wieder. Dergestalt erhält das Auditorium die Funktion eines Mitspielers. Das gesamte Opernhaus wird zur Bühne und das Publikum zu einem Teil davon – ein phantastisches, mit den Intentionen Brechts stark harmonisierendes Regiekonzept, das der Regisseurin alle Ehre macht. Am Ende streut sie gekonnt einen Funken Hoffnung in die allgemein herrschende Trostlosigkeit. Insgesamt haben wir es hier mit einer voll und ganz gelungenen und mit Hilfe einer ausgefeilten Personenregie auch spannend umgesetzten Inszenierung zu tun.

Eine gute Leistung ist Michele Gamba am Pult zu bescheinigen. Er animierte das trefflich disponierte Staatsorchester Stuttgart zu einem flüssigen, prägnanten und locker dahinfliessenden Spiel, das zudem durch große Intensität geprägt war.

Die gesanglichen Leistungen haben sich seit der Premierenserie letzte Saison noch gesteigert. An erster Stelle ist die junge Josefin Feiler zu nennen, die eine aalglatte, weißblonde Jenny Hill auf die Bühne stellte. Das war eine Frau, die weiß, was sie will. Ihre schauspielerische Leistung war voll überzeugend. Aber auch stimmlich vermochte sie sehr für sich einzunehmen. Sie verfügt über einen wunderbar timbrierten, warm und gefühlvoll klingenden, dabei bestens italienisch fokussierten Sopran, mit dem sie alle Facetten der Jenny zog. Bei aller lyrischen Raffinesse, die sie dabei an den Tag legte, war indes nicht zu überhören, dass ihre goldene Stimme allmählich deutlich ins jugendlich-dramatische Fach tendiert. Ihr bemerkenswerter Sopran ist in letzter Zeit, insbesondere nach ihrer grandiosen Dora, stark gewachsen und immer kräftiger geworden. Sie müsste eine gute Elsa sein. In ein paar Jahren wird diese Partie zweifellos eine ganz wichtige Rolle in ihrem Repertoire spielen. Schauspielerisch ebenfalls ungemein überzeugend gab Alisa Kolosova die Leokadja Begbick, die sie mit trefflich fokussiertem, imposantem und textverständlichem Mezzosopran auch tadellos sang. An das hohe Niveau seiner beiden Mitstreiterinnen vermochte Matthias Klink als Jim Mahoney mühelos anzuknüpfen. Er stürzte sich mit enormem Elan in seine Rolle, die er nicht nur trefflich spielte, sondern ihr mit seinem tadellos sitzenden, ebenfalls hervorragend italienisch fundierten Tenor auch vokal voll und ganz entsprach. Zu konstatieren war, dass seine Stimme immer kräftiger wird. Er müsste jetzt z. B. einen guten Stolzing abgeben. Mit vorbildlicher Körperstütze seines angenehm klingenden Tenors sang Elmar Gilbertsson den Prokuristen Fatty. Ein kraftvoll singender Dreieinigkeitsmoses war Joshua Bloom. Den Joe gab vokal kräftig Jasper Leever. In der Doppelrolle von Jakob Schmidt und Tobby Higgins machte Florian Panzieri einen gefälligen Eindruck. Angenehmes lyrisches Stimmmaterial brachte Laureano Quant in die Partie des Bill ein. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.

© Martin Sigmund

Fazit: Eine in jeder Beziehung gelungene Aufführung, die beredtes Zeugnis von den enormen Fähigkeiten der Staatsoper Stuttgart ablegt und deren Besuch sehr zu empfehlen ist! Die Fahrt nach Stuttgart hat sich wieder einmal sehr gelohnt.

Ludwig Steinbach, 20. April 2025


Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Kurt Weill und Bertolt Brecht

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 11. Mai 2024
Besuchte Aufführung: 19. April 2025

Inszenierung: Ulrike Schwab
Musikalische Leitung: Michele Gamba
Staatsorchester Stuttgart