Vorstellung am 30.09.2017
Großes Musiktheater
Nach dreieinhalb Stunden verlässt man diese Vorstellung von Verdis DON CARLO nicht unversehrt – man ist optisch erschlagen vom labyrinthartigen, kafkaesken und deshalb ausweglosen Bühnenraum von Markus Meyer, von der Lichtgestaltung durch Guido Petzold, der die stickige Atmosphäre des Escorial (und auch dessen Eiseskälte) mit seinem Lichtdesign so gekonnt einzufangen wusste und von den Kostümen von Sven Bindseil, der mit seiner herausragenden Kostümdramaturgie die Vielschichtigkeit von Verdis wohl düsterster Oper offenbarte.
Und man verlässt die Vorstellung auch emotional aufgewühlt, weil der Regisseur Jakob Peters-Messer innerhalb dieses Settings ein klug durchdachtes, klar Stellung beziehendes Drama inszenierte, das Scheitern jeglicher Hoffnung auf Gedankenfreiheit (und persönlicher "pursuit of happiness") innerhalb dieses totalitären Regimes -und der stets unheilvollen Allianz von Kirche und Staat – mit erschütternder Unerbittlichkeit aufzeigte. Das Inszenierungsteam liess die ganze Oper innerhalb des Palastes spielen, auch die Szenen, welche Verdi und seine Librettisten in Aussenräumen angesiedelt hatten (Garten des Palastes, mitternächtliche Szene am Brunnen, Autodafé auf dem Platz in Valladolid). Dadurch wurde einerseits die bedrückende Stimmung des Gefangenseins in einem durch und durch autoritären Regime aufrechterhalten, andererseits boten sich dank der vielen Mauern, Wänden und ins Nichts führender Treppen auf der Drehbühne ungeahnte Gelegenheiten zur Vertiefung der psychischen Konstellationen, indem Vorgänge gezeigt werden konnten, die man sonst höchstens erahnen würde. Immer wieder lauschten die Protagonisten an Wänden und bekamen so Dinge mit, die sie eigentlich nicht hätten hören dürfen. Sehr gelungen z.B. das nächtliche Rendezvous Carlos mit (der vermeintlichen) Elisabetta: In konventionelleren Inszenierungen fragt man sich oft, weshalb der Trottel Eboli nicht erkennt.
Peters-Messer hat dies geschickt gelöst, indem die beiden erst durch die Wand kommunizierten, und Eboli sich anschliessend immer hinter Säulen und Trennwänden mit dem Rücken zu Carlos gewandt bewegte. Auf Requisiten und Schmuck für die kahlen, schwarzen, fensterlosen Räume wurde weitgehend verzichtet. Einige schlichte, streng geradlinige Tische und Stühle genügten. An einer Wand hing eine gigantische, unheimliche, schwarze Skulptur. Erst dachte man, eines von HR Gigers Monster aus Ridley Scotts ALIEN sei im Escorial ausgesetzt worden, doch dann erkannte man darin eine Heuschrecke im letzten Larvenstadium, auch sie ein Symbol der Unterdrückung und Warnung, denn gemäss der Offenbarung des Johannes werden Heuschrecken alle Menschen, die nicht das Siegel Gottes auf der Stirn tragen, gnadenlos vernichten. Unter die Haut gehend war auch das grosse Tableau der Ketzerverbrennung, welche sich ebenfalls im Palast abspielte: Ohne aufgesetzten blutigen Aktionismus gelang dem Regisseur hier ein eindringliches Bild. Die Ketzer bewegten sich, als der Chor auf der Hebebühne hochfuhr, auf die unter diesem Boden zum Vorschein kommenden Totenschädel zu, verschmolzen quasi mit ihnen, das unendliche Märtyrertum setzte sich fort.
Einzig eine von diesen Ketzerinnen blieb vorerst auf der Bühne zurück, sie war die Stimme (des Gewissens) vom Himmel, die nun ganz direkt auf der Erde zu vernehmen war. Carlo kniete vor ihr nieder, sie reichte ihm ihre Kerze, das Licht des Friedens, des Trostes, der Freiheit. Das war jenseits aller Mystik schlicht und einfach zutiefst berührend inszeniert. Und so war es nur folgerichtig, dass Jakob Peters-Messer auch am Ende nicht auf die Mystik vertraute, genauso wenig wie Carlo den Worten des Mönchs (Kaiser Karl V.). Er vollzog nun mit der Pistole, welche er zu Beginn schon am Sarkophag des Kaisers versteckt hatte, den Suizid und erschoss sich. Ja, was hätte er denn auch sonst tun sollen? Einen anderen Ausweg aus diesen perversen Machtstrukturen gibt es für ihn nicht mehr. Das Libretto lässt das Ende zwar wie erwähnt mit dieser Art von Deus ex machina Auftritt des Mönchs (Kaisers) offen, doch Verdis Musik, gerade in der hier gespielten Mailänder Fassung, spricht eine andere, eine brutal gnadenlose Sprache.
Noch ein Wort zu den kostbar gearbeiteten Kostümen von Sven Bindseil: Die gedanklich verkrusteten, absolutistisch Herrschenden traten in hochgeschlossenen, strengen Kleidern auf, die an die spanische Mode des 16. Jahrhunderts angelehnt waren, ohne diese jedoch genau zu kopieren. Posa hingegen gemahnte an die Zeit Schillers, die Zeit der Aufklärung. Carlo fiel völlig aus dem Rahmen, der totale Aussenseiter, als einziger der Protagonisten in Weiss (mit Ausnahme Elisabettas in Carlos kurzer Erinnerungssequenz , in der er sie in ihrem Brautkleid sieht). Sein spanischer Mühlenradkragen war ihm zu eng geworden, er drohte zu ersticken und hatte ihn sich deshalb aufgeknöpft. Nun gemahnte er an eine Art Harlekin, den ewig traurigen weissen Clown, der stets ins Fettnäpfchen tritt, der nie ernst genommen wird. Die Wachen trugen heutige Lederjacken, Combathosen und Kampfstiefel, natürlich auch in Schwarz. Im letzten Akt, wo Elisabetta ihre grosse Arie zu singen hat, trat sie in einem Kleid in Grautönen auf, eine Solidaritätsbekundung mit den toten Ketzern, die mit ihren schäbigen grauen Hemden bekleidet um sie herum lagen.
Gaston Rivero gestaltete einen eindringlichen Don Carlo, seine Stimme jenseits jeglicher Larmoyanz oder tenoraler Schluchzer angesiedelt, verfügte über ein ausgeglichenes markantes Timbre, er interpretierte die Rolle mit einnehmender Bühnenpräsenz. Mathias Hausmann ersang sich einen grossen Erfolg als Posa, kraftvoll, viril, empathisch und überaus differenziert gestaltend. Seine Sterbeszene geriet zu einem veritablen Showstopper (auch wenn man diese in einer solch tragischen Oper eigentlich gar nicht haben will, ein musikalischer Genuss war es nichtsdestotrotz). Mit einer Einfühlungskraft in die Rolle sondergleichen gestaltete Gal James die unglückliche Elisabetta. Da war nichts forciert, eine der Figur angemessene, kontrollierte Zurückhaltung der Gefühle, schlicht und ehrlich gesungen, mit wunderbaren Piani, toll auf den Atem gelegten Phrasen.
Manchmal bekam man fast das Gefühl, die Prinzessin Eboli sei ihre Schwester und nicht ihre Rivalin. Denn Kathrin Göring verstand es, den zerrissenen Charakter dieser wichtigen Figur auf eindringliche Art zu vermitteln. Sie war katzenhaft (Tigerin, wie Eboli sich selbst bezeichnete), kämpfte zwar intrigant für Ihre persönlichen Interessen, war aber auch geprägt von Selbstzweifeln, am Ende eine ebenfalls durch das System gebrochene Person. Ihre beiden grossen Arien, die Canzón sarazena und das O don fatale, sang sie nicht als äusserliche, fulminante Bravourstücke, sonder drang mit ihrem wunderbar samtenen und doch (wo nötig) kraftvollen Mezzosopran tief in die Psyche dieser Frau ein. Dieses Eintauchen in die persönliche Befindlichkeit gelang auch Riccardo Zanellato mit seinem so herrlich sonoren und klug geführten Bass als König Filippo II herausragend gut. Seine Soloszene zu Beginn des dritten Aktes (Ella giammai m’amó) sowie das von Verdi so einzigartig komponierte Duett mit dem Grossinquisitor (Rúni Brattaberg setzte seinen rabenschwarzen, voluminös auftrumpfenden Bass mit grandiosem Effekt ein) gerieten ebenfalls zu einem musikalischen Höhepunkt dieser umjubelten Premiere. Besondere Erwähnung verdienen die Interpretinnen und Interpreten der Nebenrollen. Klanglich herausragend in ihrer perfekten, lupenreinen Intonation die flandrischen Deputierten: Andrii Chakov, Gregor Einspieler, Arvid Fagerfjäll, Joshua Morris, Jean-Baptiste Mouret, Viktor Rud. Aufhorchen liess Sven Hjörleiffson als Lerma und Herold. Welch eine fantastische Tenorstimme. Die muss man unbedingt im Auge (und im Ohr) behalten, da kann man nur WOW sagen. Einschmeichelnd und elegant auch Magdalena Hinterdobler als Tebaldo, berührend Danae Kontora als "irdische" Stimme vom Himmel, prägnant und mächtig Randall Jakobsh als Mönch und Stimme Karls V. Ein grosses Lob verdient auch der Chor der Oper Leipzig (für den scheidenden Chordirektor Alessandro Zuppardo war es die letzte Premiere), welcher die Autodafé Szene zu einem klangintensiven Erlebnis machte. Auch für den Dirigenten Anthony Bramall war dies die vorläufig letzte Premiere als stellvertretender GMD der Oper Leipzig. Er wurde als GMD an das Staatstheater am Gärtnerplatz in München berufen. Unter seiner subtilen Leitung brillierte das Gewandhausorchester mit kontrollierter Dramatik, wunderbar herausgearbeiteten Soli (besonders natürlich Daniel Pfister mit dem Cello-Solo in Filippos Szene im dritten Akt), natürlichem, nie überhastetem Fluss.
Das war ein DON CARLO, der sowohl optisch und szenisch, wie auch musikalisch lange nachhallen, dessen geballte Kraft einen noch eine Weile beschäftigen wird. Tiefgründiges, einfühlsames, intelligentes Musiktheater ohne aufgesetzten Aktionismus.
Bilder (c) Kirsten Nijhof, mit freundlicher Genehmigung Oper Leipzig
Kaspar Sannemann 4.10.2017