Leipzig: „Arabella“

Wie kann man nur? Wie kann ein Dirigent vom Range eines Ulf Schirmer, der gleichzeitig Intendant der Oper Leipzig ist, es zulassen, dass eine der ergreifendsten, der berührendsten Schlussszenen der Opernliteratur durch ein Rumpeln und Poltern und Werkeln am Bühnenbild dermassen empfindlich gestört wird? Zumal eine überaus vielversprechende neue Stimme am lyrischen Sopranhimmel zu entdecken war – Betsy Horne! Nur schon von der Erscheinung her verkörpert sie den Idealtyp einer Arabella. Großgewachsen, schlank, jugendlich, selbstbewusst und mit einer warmen, leuchtenden und wunderbar aufblühenden, überaus sauber geführten Stimme gesegnet, war sie von ihrem ersten Auftritt an der Mittelpunkt der Aufführung, spielte sich in die Herzen des leider nicht sehr zahlreichen Publikums.

Ihre beiden großen Monologe, ihre Duette mit der Schwester Zdenka und mit dem Zukünftigen, dem hoffentlich "Richtigen" (Mandryka), ihr Abschied vom Mädchenleben und den drei Verehrern und die grandios gespielte und gestaltete Szene mit Matteo im dritten Akt waren von fantastischer Einfühlsamkeit in den Charakter dieser Frau geprägt. Eine Frau auf der Suche nach Glück, nach der wahren Liebe – nicht nur nach dem "Richtigen", sondern eher nach dem richtigen Gefühl, wie die Dramaturgin dieser Produktion, Marita Müller, in einem unbedingt lesenswerten Essay im Programmheft ausführt. Dieses Gefühl, den Richtigen gefunden zu haben, beschleicht sie beim Anblick von Mandryka – und man kann Arabella da durchaus verstehen, denn Tuomas Pursio ist eine überaus attraktive Erscheinung! Er spielt den reichen Großgrundbesitzer aus der Provinz, der sich etwas unbeholfen in der Wiener Gesellschaft bewegt, mit der gebotenen Mischung aus Naivität, Arroganz, Verletzlichkeit und Rüpelhaftigkeit, aber eben auch jungenhaftem Charme! Dies alles transportiert er auch stimmlich mit seinem über ein reichhaltiges klangliches Ausdrucksspektrum und große dynamische Ressourcen verfügenden Bass-Bariton, den er auch mal rau und grobschlächtig timbriert einzusetzen versteht. Der Regisseur Jan Schmidt-Garre lässt die Geschichte auf einer schwarzen, leeren Bühne beginnen.

Adelaide (Renate Behle spielt die Rolle der verzweifelten, abergläubischen Mutter großartig, und findet zu intensiven Tönen im zweiten und dritten Akt nach etwas schrillem Beginn im ersten) und der Kartenaufschlägerin (mit farbenreicher Stimme gesungen von Katja Pieweck) steht lediglich ein Stuhl als Requisit zur Verfügung. Nach und nach werden in den darauffolgenden Szenen Bühnenelemente hereingefahren, aufgesplitterte Teile einer Zimmerflucht des Hotels, in dem die mit üblen Geldsorgen kämpfenden Waldners mit ihren Töchtern Arabella und Zdenka logieren. Da sich die Eltern nicht in der Lage sehen, beiden Töchtern eine standesgemässe Mitgift zu bescheren, wird Zdenka als junger Mann Zdenko verkleidet. Olena Tokar spielt diese Travestie hinreißend und öffnet mit ihrer Selbstlosigkeit, ihrer bedingungslosen Hingabe und ihrer Selbstaufopferung der Schwester Arabella erst wirklich die Augen und lässt diese zur von Hofmannsthal (dessen kluges Libretto leider oft unterschätzt oder gar lächerlich gemacht wird) so bewegend formulierten Erkenntnis gelangen: "Du gibst mir eine gute Lehre, dass wir nichts wollen dürfen, nichts verlangen, abwägen nicht und markten nicht und geizen nicht, nur geben und liebhaben immerfort." Olena Tokar singt die hohe Tessitura der Zdenka mit heller, gut ansprechender und sicher die Höhen und Strauss’schen Bögen erklimmender Stimme. Einzig der Silberglanz fehlt ab und an (noch).

Ihr Angehimmelter ist Matteo, der natürlich in Zdenko nur einen Freund sieht und erst nach Zdenkas Enthüllung ihres wahren Geschlechts auch andere Gefühle für die kleine Schwester Arabellas zulässt. Dieser Matteo wird von Markus Francke mit jungenhafter, schwärmerischer und ungestümer Emphase verkörpert. Auch die drei anderen Verehrer Arabellas (die Grafen Elemer, Dominik – der sich dann auf dem Faschingsball kurz mal mit der Mutter Adelaide für eine schnelle Nummer ins Séparée absetzt – und Lamoral) sind ausgezeichnet besetzt. Paul McNamara bewältigt die mit etlichen Schwierigkeiten gespickte Partie des Elemer mit perfekter Sicherheit und gestalterischer Souveränität (leider verlangt der Regisseur von ihm etwas gar viel an übertriebenem, affigem Benehmen) und Sejong Chang empfiehlt sich mit rundem, äusserst elegant (auch im Auftreten!) geführtem Bass für größere Aufgaben. Diana Tomsche gibt eine perfekt jodelnde, androgyne Fiakermilli mit bestechender Koloratursicherheit. Für den erkrankten Jan Hendrik Rootering sprang Martin Blasius als spielsüchtiger Papa Graf Waldner ein (ich durfte ihn bereits in dieser Rolle in der Produktion in St.Gallen erleben) und überzeugt mit seinem profunden, wohlklingenden Bass und herausragender Textverständlichkeit, was bei so einem Stück, das über weite Strecken eben vom Konversationston lebt, eminent wichtig ist.

Überhaupt vermögen alle Sängerinnen und Sänger mit ihrem den Text durchdringenden Singen und der stimmigen Mimik viel von dem Boden gutzumachen, den die Inszenierung durch die Leere, das oftmalige Spiel an der Rampe und die Zerstückelung der Bühne preisgegeben hat. Zwar fügen sich die Elementteile (Bühne: Heike Scheele) am Ende wie erwartet zu einem schönen Bild zusammen – allein, es ist zu spät und zudem ist durch den Verzicht auf Treppe, Hotellobby etc. die großartige Spannung und Dramatik (und deren Auflösung) des dritten Aktes verspielt worden. Gewisse szenische Vorgaben der Autoren sollte man beibehalten, wenn man nicht bezwingende Alternativen anbieten kann. Toll anzusehen sind die Kostüme von Thomas Kaiser (von den 1860er Jahren in die Entstehungszeit der Oper um 1930 angenähert, was aber sehr gut zur Kernaussage des Stücks passt, dem Aufbruch in eine neue Zeit, der damit verbundenen Ungewissheit). Insbesondere das blaue Ballkleid der Arabella ist ein Traum und Betsy Horne sieht darin umwerfend aus. Interessant auch das Lichtdesign von Guido Petzold, welches die (auch akustisch für die Sänger problematische) Bühne wenigstens in stimmiges Licht taucht. Faszinierend wie die gedrehten Elemente mal wie Betonbunkerwände schimmern können, dann wieder wie profane Sperrholzplatten wirken.

Für ein musikalisches Erlebnis sorgt neben den Sängerinnen und Sängern auch das differenzierte und farbenreiche Spiel des Gewandhausorchesters unter der genau disponierenden Leitung von Ulf Schirmer. Die ganze Pracht und Magie der Strauss’schen Klangwelten entfaltet das Orchester im fulminant orchestrierten Vorspiel zum dritten Akt, mit gleissendem Blech und herrlich schimmerndem Streicherklang. Doch auch die vielen kammermusikalischen Stimmungen und Szenenuntermalungen vermögen zu fesseln und das Ohr auf ein zu Unrecht heutzutage etwas stiefmütterlich behandeltes Meisterwerk zu konzentrieren.

Bilder (c) Oper Leipzig / Kirsten Nijhof

Kaspar Sannemann 17.12.2016