Aufführung am 14.6.22 (Premiere am 7.6.)
Bei Amilcare Ponchiellis Oper handelt es sich um eines jener Werke, die man wirklich nur ansetzen sollte, wenn man bedeutende Stimmen zur Verfügung hat. Der "Trovatore", für den man "nur" die vier besten Stimmen der Welt braucht, wird hier auf die Plätze verwiesen, denn mit der Titelrolle (Sopran), Enzo (Tenor), Laura (Mezzo), Barnaba (Bariton), Alvise (Bass) und La Cieca (Alt) sind alle drei der traditionellen Stimmfächer sowohl bei den Damen, als auch bei den Herren mit Hauptrollen vertreten. Wir werden sehen, ob dieser Voraussetzung Genüge getan wurde.
In dieser Neuproduktion konzentriert sich die Regie von Davide Livermore auf die Schaffung eines irrealen Venedig, in dem sich die Realität der Volksfeste mit Traumsequenzen überschneiden. Das ist sicherlich eine gute Möglichkeit, die in der Tradition der Schauerromantik des 19. Jahrhunderts ablaufende Handlung (basierend wieder einmal auf Victor Hugo und dessen Drama "Angelo, tyran de Padoue") mit ihren nicht immer glaubhaften Entwicklungen zwischen Intrigen des Bösewichts Barnaba, einem deutlichen Vorläufer Jagos (der Text stammt schließlich von Arrigo Boito, auch wenn er seinen Namen in diesem Fall zu Tobia Gorrio verschlüsselte), Giften und Gegengiften, entführten scheinbar Toten usw. nicht zu sehr in den Vordergrund zu stellen, sondern sich von der Atmosphäre leiten zu lassen. Wie üblich arbeitet Livermore dabei mit Giò Forma für das Bühnenbild und D-Wok für die Videos (Licht: Antonio Castro). Das Ergebnis ist eine Art Schatten-Venedig in Grau, zu dem die farbenfrohen Kostüme (Mariana Fracasso) vor allem des ersten Akts in Kontrast stehen. Nicht alles ist geglückt: Manchmal erinnern die in ihren Umrissen gezeigten Palastfassaden an die Wiener U-Bahnstationen von Otto Wagner. Auch eine im ersten und zweiten Akt herabschwebende Engelsfigur, die offenbar die Märchenhaftigkeit der Situation unterstreichen soll, scheint entbehrlich. An Tiepolo inspirierte Harlekine stechen mehrmals aus dem festlichen Gedränge hervor. Hübsch ist der Bug von Enzos Brigg im 2. Akt, die zum Aktschluss in Flammen aufgeht. Nüchtern das Palastinnere im 3., stimmungsvoll die Bootanlagestelle für Giocondas Behausung im 4.
Bei solch sich klug beschränkender Ausstattung werden die Stimmen, falls möglich, noch wichtiger (siehe oben). Ursprünglich für ein Jahr früher angesetzt, fiel die Produktion dem Lockdown zum Opfer und damit auch ein Teil der vorgesehenen Besetzung. Nun wollte man anstelle von Saioa Hernández an der Scala ein Sensationsdebüt bieten und hatte Sonia Yoncheva engagiert. Ihre Absage ließ wieder einmal nicht auf sich warten, und man wandte sich erneut an Hernández und engagierte für die Titelrolle als Zweitbesetzung eine junge Russin. In dieser dritten Vorstellung gab Irina Churilova ihr Scaladebüt, wobei es sich meiner Kenntnis entzieht, ob es sich auch um ein Rollendebüt gehandelt hat. Jedenfalls wirkte sie szenisch unbeholfen, und es fehlte ihr eine adäquat expressive Textbehandlung. Die Stimme ist voluminös, aber ohne spezifisches Timbre und mit nicht immer gut angebundenen Spitzentönen. Anstelle von Francesco Meli war Fabio Sartori vorgesehen, der sich aber noch vor der Generalprobe zurückzog. Als Ersatz wurde Stefano La Colla gerufen, der an sich über das geeignete Material für den Enzo verfügt und das hohe Register nicht fürchtet. Allerdings ist seine Intonation mehr als mangelhaft, und hier muss weniger vornehm von "Falschsingen" gesprochen werden. So geht es wirklich nicht, und nach "Cielo e mar" machte sich der Unmut des Publikums Luft. Daniela Barcellona ist auch außerhalb ihres vertrauten Belcantorepertoires eine ausgezeichnete Sängerin und gestaltete eine berührende Laura, die nach ihrem Gebet im 2. Akt berechtigten Beifall erhielt. Den erhielt auch Roberto Frontali nach seinem Fischerlied im selben Akt, das denn auch der beste Teil seiner Leistung war. Aufgetreten anstelle von Luca Salsi, fehlte es Frontali trotz allen Bemühens an Schwärze in der Stimme für den Schurken Barnaba, und die Figur blieb ohne mephistophelisches Profil. Was charismatische Ausstrahlung bedeutet, zeigte Erwin Schrott, der den 3. Akt mühelos beherrschte und seine Arie "Sì, morir ella dee" mit Vehemenz und Ausdruck sang. Als Giocondas Mutter La Cieca ließ Anna Maria Chiuri insofern zu wünschen übrig, als hier pastose Alttiefen verlangt werden, über die ihr leicht tremolierender Mezzo nicht verfügt. Zufriedenstellend die Comprimari Fabrizio Beggi (Zuàne), Francesco Pittari (Isèpo) und die Chorsolisten Ernesto José Morillo Hoyt und Alessandro Senes.
Was der Vorstellung aber völlig fehlte, war eine adäquate musikalische Leitung. Frédéric Chaslin mag bei Massenet und Co. seine Meriten haben, für diese zwischen Verdi und Verismo liegende Grand‘ Opéra fehlt es ihm an Temperament, am Gefühl für die große romantische Geste, und der Abend schleppte sich in einer Trägheit dahin, der auch das Orchester des Hauses zu erliegen schien, während es dem Chor unter Alberto Malazzi gelang, die Fahne der von einem Haus wie der Scala erwarteten Qualität hochzuhalten. Die vergnügliche Gestaltung der "Danza delle ore" in der Choreographie von Frédéric Olivieri mit Schülern der Accademia della Scala verdient ebenso wenig negative Erwähnung wie der Kinderchor des Hauses unter Bruno Casoni.
Der Abend endete mit zahlreichen Buhs für Chaslin und La Colla und einigen für Churilova. Applaus für die anderen Mitwirkenden, mit Bravorufen für Barcellona und Schrott.
Die eingangs erwähnte Voraussetzung für eine Produktion dieser Oper wurde jedenfalls nicht erfüllt.
Eva Pleus, 21.6.22
Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala
P.S.: Es war meine letzte Vorstellung mit FPP2-Maske; die Vorschrift zum Tragen einer solchen in Opernhäusern, Theatern und Kinos fiel tags darauf, am 15.6.