Mailand: „Un ballo in Maschera“

Aufführungen am 10. und 19.5. (Premiere am 4.5.)

Die letzte Produktion von Verdis Meisterwerk war an der Scala 2013 zu sehen gewesen, in einer nicht unumstritten gebliebenen Inszenierung von Damiano Michieletto. Galt der Vorwurf damals einer Interpretation, die als zu "modern" empfunden wurde, so kann dieser dem für Regie, Bühnenbild und Kostüme verantwortlichen Marco Arturo Marelli nicht gemacht werden, denn die Handlung nahm ihren bekannten Verlauf, allerdings ohne Versuch einer Personenregie. Das ist das alte Kreuz mit Ausstattern, die zu Regisseuren wurden und ein paar (diesfalls skurrile) Einfälle für ausreichend halten, um dem Werk und seinen Charakteren Profil zu verleihen.

In einem bläulich-weißen (von Marco Filibeck nicht immer geschickt ausgeleuchteten), vage an barocke Fresken erinnernden Bühnenbild spielt sich die Handlung ab. Für die Ulricaszene kommt eine Art großer Wackelstein hinzu, aus dem Ulrica erscheint und ihre Arie singt, um sich dann hinunter zu ihren Bewunderern zu begeben. Die Galgenszene ist mit Rabenvögeln bevölkert, Renatos Zuhause durch Fauteuil und Sofa angedeutet. Die letzte Szene gibt zum Teil die Logen eines klassischen Theaterrunds wieder. Abgesehen von den grundsätzlich ermüdenden dunklen Farben wäre gegen die Szenerie nichts einzuwenden. Viel ist hingegen an dem zu tadeln, was Marelli zur Belebung der Handlung eingefallen ist. Das beginnt mit einem Vorspiel, in dem Riccardo seine Seelenqualen äußern muss, und zwar zum musikalischen Motiv der Verschwörer, was völlig im Gegensatz zu seinem Auftreten steht, der bekanntlich nichts von Renatos Vorsichtsmaßnahmen hören will und auf die Liebe seines Volkes vertraut. Der Auftritt des Richters wird verblödelt, weil Oscar den am Stock gehenden Vertreter der Justiz fast zu Fall bringt. Beim Vorschlag Riccardos, sich verkleidet zu Ulrica zu begeben, wird der Chor (man verzeihe mir den Austriazismus) ganz "wurlert" und hüpft umher, als ginge es um eine Operette von Offenbach. Renato muss seine erste Arie gegen den Rücken Riccardos singen, weil dieser inzwischen als Regierender gemalt wird. Der Chor bedroht bei seinem Auftritt Ulrica mit großen Rudern. Nach deren Wahrsagung fällt Riccardo wie tot zu Boden und erhebt sich zum Schrecken der ihn Umgebenden für "E‘ scherzo od è follia". Schließlich wird er in einer Apotheose auf dem von vier Männern getragenen Thron samt Hermelinmantel wie ein König gefeiert (ist er nicht ein Gouverneur in Boston, Massachusetts?). Die weiteren Szenen gehen weniger forciert weiter, allerdings ist es ein unglücklicher Einfall, den Chor im (an sich beeindruckenden) letzten Bild, wo er als anonyme Masse mit Schnabelmasken auftritt, abgehen zu lassen, sodass Riccardo-Amelia ihre letzten Tanzschritte allein absolvieren, wo sie einander doch in der Menge hätten suchen müssen. Im ersten, dritten und letzten Bild tritt der Tod auf, im letzten mit Geige, das Ganze ist ein ziemlich plattes Zitat von Bergmans "Siebentem Siegel".

Die Kostüme der Protagonisten des Liebesdreiecks wirken eher bürgerlich, das der Ulrica ist phantasievoll, die der Verschwörer sind im ersten Bild an Naziuniformen inspiriert, während sie im Galgenbild mit Zylindern auftreten (der des Samuel wird später auch als Urne für die Auslosung dessen dienen, der Riccardo ermorden soll). Ziemlich lächerlich die Dominos von Renato, Samuel und Tom: Zwar hielt sich Marelli farblich an die Angaben des Librettos, aber in der Ausformung der Kostüme schien es, als hätten die drei Verschwörer jene Überwürfe mit großen farbigen Maschen an, die in Italien in den ersten Volksschuljahren getragen werden.

Doch endlich zur musikalischen Seite der Neuinszenierung: Francesco Meli ist heute sicher der führende Interpret des Riccardo, für mich Verdis faszinierendste und gesanglich forderndste Tenorrolle. Meli hat dafür die schöne, im Timbre den verschiedenen Gemütslagen zwischen Übermut, Melancholie und rasender Verliebtheit entsprechende Stimme und eine expressive Diktion, die ihresgleichen sucht. Renato ist vielleicht nicht die beste Rolle von Luca Salsi, denn der hervorragende Bariton ist von den "schweren Helden" (wie es früher im Sprechtheater hieß) wie Macbeth oder Boccanegra her ein Akztentuieren der Phrase gewöhnt, wie es Renato weniger ansteht. Hier ist ebenmäßiger Gesang gefragt, dessen Phrasen wie von selbst ihr Gewicht erhalten. Der große Erfolg von Sandro Radvanovsky ist für mich ein Rätsel, denn ich hörte einen nicht sehr schön timbrierten, allerdings ausladenden Sopran, bei dem in der Mittellage einiges an heißer Luft störend auftrat. Dies zeigte sich vor allem in Amelias erster Arie, die zweite gelang besser, auch intensiver. Als Ulrica beeindruckte die junge Russin Yulia Matochkina, die zwar ein Mezzo anstatt des geforderten Alts ist, aber alle gesanglichen Anforderungen Verdis bestens beherrschte. Es wäre interessant, sie in einer anderen Rolle wiederzuhören. Der Oscar der spritzig singenden Federica Guida litt ein wenig unter der ihr von der Regie verschriebenen Aufdringlichkeit. Die Verschwörer wurden von Sorin Coliban (ein Samuel mit schwarzer Augenbinde) und Jongmin Park mit stimmlichem Nachdruck verkörpert. Der Auftritt von Liviu Holender als Silvano war eher als vokal und sprachlich peinlich zu registrieren. Costantino Finucci, Bassbariton, war der Richter im ersten Bild, eine für einen Tenor geschriebene Rolle. Warum? Präzise die Leistung von Paride Cataldo als Diener Amelias im zweiten Bild.

Der Chor des Hauses unter Alberto Malazzi zeigte neuerlich eine vorzügliche Leistung. Am Pult ließ Nicola Luisotti insofern zu wünschen übrig, als eine solide Wiedergabe ohne besondere musikalische Akzente zu hören war.

Da die Touristen wieder zurückgekehrt sind, war das Haus voll und der Beifall großzügig. Salsi, der im "Eri tu" einen winzigen, auch gleich wieder ausgebügelten, Hänger hatte, wurde mit einem einzelnen Buh bestraft, das sich bei der Einzelpräsentation der Künstler vor dem Vorhang wiederholte.

Dass nach jahrelanger Abwesenheit Ludovic Tézier endlich wieder an der Scala zu hören war, war ein Grund, sich diese nicht eben berauschende Produktion nochmals anzusehen. Und der Hörer wurde mit einer prachtvollen Leistung des sich geradezu in Überform befindlichen Franzosen belohnt. Da saß jeder Ton, aber auch jeder Akzent seines wunderbar strömenden Baritons; dazu gesellte sich der elegante Habitus seines Auftretens, sodass man sogar hinnahm, dass die Regie Renato seine scheinbar untreue Frau mit ihrem Schleier würgen ließ. "Eri tu" war ein Triumph des Schöngesangs und wurde mit entsprechend stürmischen Ovationen bedankt. Ich habe in der Rolle Protti, Paskalis, Waechter, Glossop, Bruson, Zancanaro, Cappuccilli gehört, um nur die bekanntesten zu nennen, aber ich stehe nicht an, Tézier in dieser Rolle gleich nach dem Sänger zu reihen, der für mich das Nonplusultra Renatos war, nämlich Ettore Bastianini.

Weniger Glück hatte diesmal Francesco Meli, der nach einem tadellos gesungenen 1. und 2. Akt im 3. bei "Ma se m’è forza perderti" einen eindeutig körperlich verursachten Schwächeanfall erlitt, was – auch beim Schluss- und Einzelvorhang – ein paar hartnäckige Buhs bewirkte. Schande über diese Ignoranten! Vereinzelte Buhs gab es am Schluss auch für Sondra Radvanovsky, obwohl sie nach ihren beiden Arien viel Beifall hatte. Die Buhs waren sicher übertrieben, aber auch diesmal konnte mich die Sopranistin aus Illinois mit ihrer unruhigen Stimmführung nicht überzeugen.

Neu war diesmal auch Okka von der Damerau als Ulrica, die an die Leistung ihrer Vorgängerin nicht herankam. Im Gegensatz zum gut dominierten höheren Register standen hohle tiefere Töne und eine insgesamt wenig beeindruckende Leistung. Am Pult war diesmal Giampaolo Bisanti zu erleben, dem es gelang, dem Orchester einen betörenderen Klang als sein Vorgänger zu entlocken. Die anderen Mitwirkenden und der Chor wiederholten ihre schon beschriebenen Leistungen.

Eva Pleus 22.5.22

Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

P.S.: Für die heutige Sensibilität ist es verständlich, dass "L’immondo sangue dei negri" (=Vom unreinen Blut der Neger), die Worte, mit welchen der Richter von Ulrica spricht, durch einen anderen Text ersetzt wurden, aber dass z.B. Felsen auch nicht mehr "negri", also schwarz, sein dürfen, führt uns leider auf das glatte Parkett der cancel culture.