Teatro alla Scala 20.12.
Der mit langem Auftrittsapplaus gefeierte Künstler brachte ein rein russisches Programm, in dem in der ersten Hälfte die 12 Lieder des Zyklus (in freier Übersetzung) „Russland ohne Führung“ von Georgij Sviridov (1915-1998), einem Schüler Schostakowitschs, erklangen. Die Texte sind Gedichte von Sergej Yesenin (1895-1925), dessen Produktion sich wiederholt auf die nostalgische Erinnerung an das bäuerliche Russland bezieht und wurden in spätromantischem Stil vertont. Abdrazakov setzte brillant jede Regung in Ausdruck um, sodass man immer um die interpretierten Gefühle wusste, ohne auch nur ein Wort Russisch zu verstehen. Von diesem Komponisten hätte ich gerne mehr gehört, doch schien das Publikum nicht dieser Ansicht, denn unser Bass wurde mit Ach und Krach nach Beendigung des Zyklus‘ ein zweites Mal hervorgerufen.
Der zweite Teil war Modest Musorgskij gewidmet, der eigene Texte, sowie u.a. solche von Heine und Puschkin vertont hat. Hier war es das bekannte „Flohlied“, das beklatscht wurde, sowie der schwungvolle, rustikale „Gopak“, aber jedes einzelne Lied war eine Lektion in gesanglicher Raffinesse. Ein besonderes Glanzlicht war der abschließende „Tod des Boris“, mit erschütternder Intensität vorgetragen. Wir dürfen uns auf die nächste Saison freuen, wenn das Werk hier mit Abdrazakov herauskommt.
Das Publikum erklatschte sich vier Zugaben: Ein Lied wurde (übersetzt) mit „Frühlingswasser“ angesagt (in dessen Nachspiel brutal hinein geklatscht wurde), es folgte eine Arie aus „Ruslan und Ludmilla“. Dann kam „Infelice, e tuo credevi“, die Arie des Silva aus „Ernani“, und die „Calunnia“ aus dem „Barbier“. Ich persönlich fand es peinlich, dass die Zuhörerschaft bei deren Ankündigung mit besonders frenetischem Applaus reagierte, so als wollte sie „endlich“ sagen. Ausgezeichnet Mzia Bachtouridze am Klavier, mit der sich der Sänger merklich besonders gut verstand. Als kleinen Negativpunkt möchte ich anmerken, dass Abdrazakov, mit Ausnahme von „Boris“ und der Zugaben, mit Notenpult sang.
Am 10.12. gab es im Auditorium ein interessantes Konzert, das von dem Organisten und Dirigenten Wayne Marshall beherrscht wurde. In dem so gar nicht banale Programm waren „Cortège et Litanie“ op. 19 Nr. 2 für Orgel von Marcel Dupré, „Konzert für Orgel, Streichorchester und Pauke“ in g-Moll von Francis Poulenc und George Bizets „Symphonie Nr. 1 in C-Dur“ zu hören. Marshall erwies sich neuerlich als der hervorragende Organist, der er ist, und dirigierte machtvoll das schwierige Stück von Poulenc von der Orgel aus (was angesichts der Kompliziertheit dieses Instruments schwieriger ist, als solches vom Cembalo aus zu tun). Nach großem Applaus spielte Marshall brillant, aber ohne Ansage, ein mir unbekanntes Stück auf der Orgel, das jedenfalls nicht zu den klassischen Kompositionen à la Bach und Pachelbel zählte. Auch Bizets Komposition erfuhr eine sehr lebendige Wiedergabe (köstlich der 2. Satz!) durch das Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi. Viel Applaus und Zufriedenheit im recht gut besuchten Saal.
Eva Pleus 28.12.2021