Besuchte Aufführung: 24.11.13, (Premiere 06.09.13) 2. Kritik
Demontage als Regieprinzip
„Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“
Arrigo Boito (1842 – 1918) hatte schon als Jugendlicher am Mailänder Konservatorium studiert. Als eine der treibenden Kräfte in der Intellektuellen- und Künstlervereinigung „Scapigliatura“ rechnete er schon in jungen Jahren mit der kulturellen Erstarrung in Italien ab und betrieb deren Erneuerung. Dabei nahm er auch Einflüsse der deutschen Musik auf und half, Wagners Werk in Italien bekannt zu machen. Er übersetzte die Texte von Rienzi und Tristan und Isolde ins Italienische. Arrigo Boito ist durch seine Libretti zu Verdis beiden letzten Shakespeare-Vertonungen bestens bekannt geworden. Sein historischer Verdienst besteht sicher darin, dass er Verdi dazu bewegen konnte, diese Libretti zu vertonen, was Verdi nur zögerlich anging, obwohl die beiden bei der Überarbeitung des Simone Boccanegra bereits einen durchschlagenden Erfolg erzielt hatten. Seine Befassung mit Goethes Faust I und II brachte Boito dazu, den Stoff zu veropern. Eine erste, längere Fassung 1868 fiel durch, mit der überarbeiteten und gekürzten Version von 1875 war ihm ein großer Erfolg vergönnt. Die Oper verschwand seither nie ganz aus den Programmen der Musiktheater, aber sie führt heute dennoch nur ein Schattendasein – und das zu Recht. Operabase listet für diese Spielzeit gerade drei neue Produktionen.
Musikalische Versuche an Faust hat es zur Genüge gegeben; von den Versuchen in Sinfonik (Wagner, Liszt), Chor-Tableaus (Schumann) oder in Opern (Berlioz, Gounod, Boito, Busoni) ist lediglich Gounods Faust (17 Produktionen in dieser Spielzeit laut operabase) im heutigen Stamm-Repertoire vertreten. Gounods Faust beschränkt sich auf die Gretchen-Geschichte und macht damit eine folgerichtige Handlung möglich; Rührseligkeit und Süße von Stoff und Musik sind von der Musikkritik genügend bewertet worden. Der Faustkenner Berlioz hatte vorsichtshalber wie Schumann seine erste Faust-Musik „Faust-Szenen“ genannt, seine spätere Oper „dramatische Legende“. Eine Oper über den Faust-Stoff schreiben zu wollen, gleicht dem Versuch der Quadratur des Kreises, vor allem wenn wie bei Boito auch noch Szenen aus Faust II einbezogen werden. Man bedenke, dass Faust I und II in Originallänge 13 (dreizehn!) Stunden dauern (Peter Stein 2001). Auch Boito hat letztlich nur vier Szenen zu einer „Oper in einem Prolog, vier Akten und einem Epilog“ verschafft.
Feuerzauber und zersägte Jungfrau
Hat also schon Boito seinen Mefistofele ziemlich zusammenhanglos und bilderbuchartig in Szenen aneinander gereiht und verweigert dem Zuschauer damit eine durchgängige Handlung, so hat Regisseur Lorenzo Fioroni den Stoff noch weiter zerlegt, zerhackt und demontiert, so dass man sich nur schwer hinein findet. Seine Arbeit erinnert deutlich an seine Inszenierung des „Grand Macabre“, einer erklärten Klamauk-Oper, im März 2012, die in Mainz nicht nur wegen des attraktiven Stücks Furore gemacht hat, sondern auch wegen der quirlig witzigen Umsetzung. Nun folgt die Fortsetzunjg: nicht mit anderen Mitteln, aber an einem anderen Stoff. Klamauk beim Faust-Stoff kann aber bezüglich der Sinnhaftigkeit hinterfragt werden. Das Bühnenbild von Paul Zoller zeigt eine zeltartige Theaterbühne mit noch einer weiteren kleinen Bühne: die Bühne auf der Bühne der Bühne. In diesem Welttheater stehen um einen alten Filmprojektor (im Kontext damit etliches Video-Flimmern auf einem Gaze-Vorhang) vor allem Kisten und Aberkisten herum – schlampig mit Strichlisten beschriftet. In einigen ist einfach nur Krempel untergebracht; andere enthalten ihrer länglichen Form entsprechend Leichen; in eine legt sich zum Schluss Faust, nachdem er dort die Erde herausgeschaufelt hat. Absurdes Theater und Travestie beherrschen die Szene, Variété und Zirkus mit knackendem Feuerzauber und Kunststücken, die in der zersägten Frau gipfeln. Mefistofele als Taschenspieler, der als gefallener Engel noch blutige Spuren von abgefallenen oder abgerissenen Flügeln auf dem Rücken trägt. Sein Gegenüber im Prolog „Alte“ ist ein Gemisch aus Altrocker in schwarzer Lederkluft und Hippie.
Tatjana Charalgina (Gretchen); Faust
Der Osterspaziergang findet auf einer Kirmes statt. Bei der Walpurgisnacht kommt es zum Extremklamauk, den Annette Braun noch mit den grellen Kostümen der Hexen aufpeppt. Danach gibt es einen Ansatz von Kontinuität im Bühnengeschehen. Im Hexensabbat bricht das Zelt zusammen und begräbt etliche Kisten unter sich. Illusion gab es auch vorher nicht; nun aber sitzt der Zuschauer vor dem schwarzen Theaterturm mit einigen Stellagen, in welche später ein paar von den Kisten entsorgt werden. Aus dem zerstörten Welttheater formt sich mit den herunter gefallenen Zeltplanen eine Landschaft, in der Helena im vierten Akt als Fremdenführerin mit heftig blitzgewitternden Touris einzieht: antike Ruinen. Helena ist aber nicht als schönste Frau der Welt zurechtgemacht, sondern eher wie eine alternde Hausfrau, die sich etwas hinzuverdienen will. Entsprechend wird auch Faust nicht zum zweiten Male verjüngt, sondern von Mefistofele in einen Variété-Conférencier mit Frack, Zylinder und weißem Seidenschal gemacht, zur Verzerrung dazu noch mit einer aufgepinselten Clownsmaske degradiert – sic transit gloria mundi.
Ks. Hans-Otto Weiß (Mefistofele)
Dass Boito und die Scapigliatura die kulturelle Szene in Italien mit Neuem aufmischen wollten, führte nicht zu einer wirklich neutönerischen Musik. Hermann Bäumer mit dem engagiert und konzentriert aufspielenden Philharmonischen Staatsorchester Mainz ließ es aus dem Graben wagner-n und verdi-en. Deutlich hört man, dass Boito den Lohengrin gut gekannt hat. Noch stärker allerdings ist der Einfluss des älteren Freundes Verdi auf seine Musik durchhörbar; und wie beim späteren Verdi werden auch Puccini-Klänge schon vorweggenommen. Der an sich auch im Stoff angelegte Dualismus gut-böse ist auch in die Partitur projiziert; große emotionale Ausbrüche und Pathos kontrastieren mit feinen kammermusikalischen Passagen; das wird vom Orchester durchweg filigran und feinsinnig bzw. kraftvoll und auch krachend umgesetzt. Eindrucksvoll gerieten auch die Chorszenen. Neben dem von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierten Staatstheater-Chören traten quicklebendig auch Kinder des Mädchenchors am Dom und St. Quintin und des Mainzer Domchors (Einstudierung: Karsten Storck) auf.
Ks. Hans-Otto Weiß (Mefistofele); Faust
Von der solistischen Besetzung ist durchweg positiv zu berichten. Im Dauereinsatz mit dominierender Bühnenpräsenz gestaltete Ks Hans-Otto Weiß mit sonorem, fast zu kultiviertem Bass die Rolle des Mefistofele. Der Koreaner Andrea Shin vom Ensemble des Badischen Staatstheaters gab die Gegenpartie des Faust mit gut geerdetem, nicht zu hellem Tenor und schönen Höhen, aber eindimensionaler Färbung. Dass das Gretchen Auftritte in zwei ganz verschiedenen Teilen der Oper hat, veranlasste die Regie dazu, zwei verschiedene Sängerinnen einzusetzen. In der Gartenszene wirkte Tatjana Charalgina als verletzliche Puppengestalt und begeisterte mit ihrem schön grundierten warmen Sopran und glühenden Höhen. Den zweiten Auftritt der Margherita bestritt die superschlanke Vida Mikneviciute, die zweite Sopran-Wunderwaffe am Staatstheater, kraftvoll mit deutlich hellerem, klarem und perfekt fokussiertem Sopran. Aiste Miknyte gestaltete die Elena mit komödiantischen Einsatz und elegant-geschmeidiger Führung ihres tadellosen Soprans. Agustín Sánchez Arellano als Wagner fiel mit einer gewissen Enge seines Tenors etwas ab, aber Katja Ladentins als lasziv aufregende Marta gefiel in ihrer kurzen Rolle mit ihrem aufreizenden Spiel und ihrem vollen Alt.
In der Mitte: Faust; Chor
Das was, Boito an dem Faust-Stoff fasziniert haben mag, kommt in der Fioroni-Inszenierung nicht vor. Kein Respekt vor dem Stoff, kein Respekt vor dem Stück, und was selbst im extremen Regietheater selten ist: nicht die Spur von Respekt gegenüber der Musik. Denn die wird laufend durch geräuschvolles Kistenrücken gestört, durch extreme eingespielte Fremdklänge, durch Getrappel der Statisten und schließlich zu relativ zarter Musik zu Faustens Ende auch durch Geplapper der Bühnenarbeiter, die schön geräuschig die Bühne abräumen, um nach dem Welttheater nicht noch Überstunden machen zu müssen. Wahrscheinlich fehlten Fioroni noch die Autohupen aus dem „Grand Macabre“. Wirklich Neues über den Faust-Stoff hat man nicht erfahren. Das "Faustische", das Italierer und Franzosen fasziniert hat, ist Kirmes-Bildern gewichen.
Die Produktion geriet aber voll zum Geschmack des Publikums. Jubelnder Beifall aus dem fast ausverkauften Haus mit auffallend vielen jüngeren Zuschauern schloss den Abend ab. Man kann sich dieses Spektakel noch am 8. Dez. und am 18. Januar ansehen.
Manfred Langer, 26.11.2013
Fotos: Martina Pipprich
Als Faust ist Gaston Rivero aus der Premierenbesetzung zu sehen. Weitere Fotos unten bei der Premierenbesprechung