Kann man eine 25 Jahre alte Inszenierung noch einmal reaktivieren? Die Beantwortung dieser Frage hängt an von der Erwartung, die man hat. Zunächst sollte man der Oper Dortmund dankbar sein, dass sie dem Regisseur Peter Konwitschny die Möglichkeit eröffnet, einmal den ganzen Ring des Nibelungen zu inszenieren. Die vier Abende werden nicht in der Reihenfolge des Zyklus gezeigt, um zu betonen, dass es sich auch um in sich geschlossene Werke handelt. (In jedem, außer dem eigentlich eröffnendem Rheingold, sind darum genügend Rückblenden eingebettet, um das Geschehen einordnen zu können.) Deshalb wird jeder Teil von anderen Bühnen- und Kostümbildnern gestaltet. Man könnte es fast mit einem Mozart/daPonte- oder Strauss/Hoffmannsthal-Zyklus aus der Hand eines Regisseurs vergleichen. Nun könnte man eigentlich schon erwarten, dass er in diesem Rahmen einen neuen Zugang zur Götterdämmerung findet, einen anderen, als den er 2000 in Stuttgart gezeigt hat, als der Ring erstmals von vier verschiedenen Regisseuren auf die Bühne gebracht wurde. Doch Dortmund übernahm diese Inszenierung mitsamt Bühnenbild und Kostümen. Diese kann man sich auf YouTube ansehen, und vom schnellen Durchspringen aus geschlossen lässt sich feststellen, dass man in Dortmund exakt das Gleiche (bis auf die Darsteller natürlich) zu sehen bekommt. Aus dieser Inszenierung entwickelt Konwitschny sein Regiekonzept für den gesamten Zyklus. Dieses besteht aus unmittelbarer Theatralik, basierend auf genauer Personenführung und Textausdeutung einerseits und ironischen Brechungen mit Tendenz zum Klamaukhaften andererseits und schließlich überraschenden Schlussbildern. Das macht die Aufführungen sowohl lehrhaft (im positiven Sinn!) als auch unterhaltsam (was Traditionalisten gar nicht gefällt). Was völlig fehlt, ist eine Verbindung zu grundsätzlichen oder aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Fragestellungen oder zumindest zu Wagners möglichen Intentionen. Das verwundert, weil die Programmhefte in Beiträgen des Regisseurs und über Wagner durchaus diesbezügliche Erwartungen wecken.

Immerhin gibt es Kontinuität zu dem zuletzt gezeigten Rheingold, wo Urmutter Erda als Müllsammlerin mit einer großen Kinderschar auftritt und drei dieser Kinder nun die mit Pappen und Plastiktüten auf der Straße hausenden Nornen sind. „hier: Goetterdaemmerung_1“ Diese Anfangsszene spielt sich vor dem Einheitsbühnenbild ab. Das besteht aus einem Holzständergerüst für eine große Halle, das erhöht auf der Drehbühne montiert ist und dessen Längsseite die Bühnenbreite einnimmt, aber so, dass es gerade noch drehbar ist. Die vier Seiten lassen sich mit schwarzen Plastikplanen abdichten, die ihrerseits verschließbare Öffnungen für kleine Fenster und eine Tür haben; eine ausklappbare Treppe führt zur Bühnenebene. An einer Schmalseite kann mit einer Leinwand ein kleinerer Raum abgegrenzt werden. Dazu bei Bedarf ein Tisch und ein, zwei Stühle und ein Schrank – mehr bedarf es nicht, um ein viereinhalbstündiges Drama ablaufen zu lassen. Die Schlüsselfigur in diesem Drama scheint für Konwitschny Hagen zu sein; an der Zeichnung dieser Person hat er besonderes Interesse. Dass Hagen gesteigertes Interesse daran hat, mit dem Ring des Nibelungen die Weltherrschaft an sich zu reißen, ist soweit bekannt. Doch seitdem Siegfried ihm den Ring durch die Eroberung Brünhildes verschaffen kann, wird er nervös, fasst sich bei seinem Monolog „Hier sitz ich zur Wacht“ wiederholt an den Kopf und erlebt die Begegnung mit seinem Vater Alberich als Alb-Traum (Achtung: Sprechender Name!) – eine beeindruckende Szene, auch wie der Alb verschwindet. „hier: Goetterdaemmerung_2“ Beim Heranrufen der Mannen reißt er sich das Hemd vom Leib und versteckt sich unter der Treppe, als wirke er von seinem eigenen Plan überfordert. Aber muss weitermachen, tritt bei dem Konflikt zwischen Brünhilde, Siegfried und Gunther nur zu seinen Einsätzen in Erscheinung und versteckt sich sonst hinter dem Chor. Für seinen Plan „Siegfried falle“ und der Ausführung desselben ist er aber wieder nervlich stabil. Sein trotzig herausgeschleudertes „Meineid rächt ich“ ist der vokale Höhepunkt der Rollengestaltung durch Samuel Youn. Der ist kein tiefschwarzer Bass, wie man den Hagen sonst kennt, sondern ein Bassbariton, ihm fehlt also auch stimmlich die Ausstrahlung absoluter Macht, was zur Regie, aber nicht unbedingt zur Lage der Partie (tiefer Bass) passt. Tiefe wird über die Vokalfärbung gesucht: „Wos host du meinem Schlof zu sogen?“ Er hat die gleiche Lage wie Gunther, den er bereits gesungen hat. Der Gibichungenfürst wird verkörpert von Joachim Goltz, ein erfahrener und schauspielerisch agiler Charakterbariton. Sein Gunther definiert sich durch perfekt sitzende Anzug und Krawatte, große Unsicherheit bei der Auseinandersetzung mit Brünhilde und Siegfried und schlechtem Gewissen beim Plan, Siegfried umzubringen.

In diesem Zusammenhang sei ein Regiedetail genannt: Gunther hat Brünhilde an einem Seil hinter sich her zu den Gibichungen gezogen. Nun sitzt er, in dieses Seil verheddert und als Strick um den Hals gelegt auf der Treppe, und Hagen wirft ihm vor: „Was hängst du im Harm?“ Auch er hat seinen vokalen Höhepunkt bei Siegfrieds Tod, wenn er hörbar tief erschüttert dem Mörder vorwirft: „Hagen, was tatest du?“ Eleganz fehlt jedoch seiner Stimme. Der Siegfried ist in Dortmund Daniel Frank. Gegenüber seinem Siegmund und der Siegfried-Titelfigur wirkte er weniger überzeugend, sang in Einheitslautstärke, intonierte seine Abschiedsworte nicht mehr ganz sauber (und musste, bevor er endgültig sein Leben aushauchte, noch ein paar Mal stöhnen). Dafür ist er auch hier ein lebendiger Darsteller, der für Heiterkeit sorgen kann, etwa wenn er vor den Mannen seine Geschichte mit Mime erzählt und er dabei sein Jackett als Puppe benutzt und eine schwarze Socke über die Hand zieht, um den Waldvogel zu imitieren. Den größten Schlussapplaus durfte Stéphanie Müther für ihr Portrait der Brünhildeverbuchen. Eine starke, würdevolle, von wahrer Liebe beseelte Frau, deren warme Stimme viel Leidenschaft verströmt und deren klug gestalteter Schlussgesang für viele im Saal der Höhepunkt der Aufführung war. Barbara Senator hingegen sang die Gutrune so, wie die Regie sie anlegte: Als blasses Heimchen am Herd. Die zweite Walküre des Abends, nämlich Waltraute, ist die der ersten ebenbürtige Anna Lapkovskaja. Sie singt auch die zweite Norn. Die erste Norn ist Rita Kapfhammer, die dritte Norn Tanja Christine Kuhn. Drei starke Stimmen, die den einzelnen Nornen Individualität verleihen. Tanja Christine Kuhn ist auch als Wellgunde zu hören. Das Rheintöchterterzett besteht zudem aus Sooyeon Lee (Woglinde) und Ruth Katharina Peeck (Flosshilde). Stimmlich alle drei keine niedlichen Wassergeister, sondern fast schon mit Walkürenformat. Einen kurzen, aber markanten Auftritt hat Morgan Moody, der als Alb(erich) den Hagen mit ausdrucksvoller Stimme beschwört. Zusammen mit einem Projekt-Extrachor beeindruckt der Opernchor Theater Dortmund, einstudiert von Fabio Mancini, in den Massenszenen. Schließlich steht Götterdämmerung am Beginn von Wagners Ring-Idee und ist in ihrer Grundkonzeption von daher noch der Grand Opéra verpflichtet. Erst die anschließend entstandenen, aber inhaltlich vorausgehenden Abende kommen ohne Chor aus. Die Dortmunder Philharmoniker spielen blechstark auf; leider passen in den Graben nicht mehr Streicher, um klanglich die Original-Bläserbesetzung auszugleichen. Mit bandagiertem linken Arm steht der scheidende (Kiel darf sich freuen) GMD Gabriel Feltz den langen Abendtapfer durch, verliert trotz der herausgekitzelten Details und flexibler Tempi nicht den Fluss und hat die großen Bögen fest im Blick. Musikalisch insgesamt eine Aufführung auf gutem Großstadt-Stadttheater-Niveau mit vielen Gästen in den Hauptrollen, aber nicht vergleichbar mit den tonangebenden Opernhäusern, wie man schnell beim Anhören des Stuttgarter Videos merken kann. „hier: Goetterdaemmerung_3“

Um zur Eingangsfrage zurückzukehren: Kann man eine 25 Jahre alte Inszenierung noch einmal reaktivieren? Im Rahmen eines Gesamtzyklus wie hier macht es Sinn. Ein Opernhaus von der Größe und den Möglichkeiten Dortmunds sollte seinem Publikum und den Interessierten von weiter weg innerhalb einer Generation die Möglichkeit bieten, eine Aufführung des ganzen Ringes zu erleben. Auch wenn es dieses Mal keinesfalls ein Jahrhundertring ist, bietet es einen guten Einstieg für Anfänger und die Gelegenheit, sich weiter mit dem Werk zu befassen, ohne sich erst durch ein vom Regisseur übergestülptes, schwer zu durchschauendes und verdauendes Gesamtkonzept arbeiten zu müssen (dass der Rezensent auch diese Option faszinierend finden kann, beweist sein Bericht über den Wiener Parsifal, der sich nur sehr entfernt am gesungenen Text orientiert). Konwitschny hat diesmal allerdings auch das von Wagner intendierte Konzept außer Acht gelassen und sich episch am gesungenen Text abgearbeitet. Wer eine Götterdämmerung im engen Sinne des Wortes erleben möchte, wird hier enttäuscht und wird anderswo nach Antworten, Bildern, Lösungen suchen müssen. Eine mutige Neuinszenierung hätte befriedigender oder nachhaltig eindrücklicher ausfallen können.
Bernhard Stoelzel, 20. Mai 2025
Götterdämmerung
Richard Wagner
Oper Dortmund
Premiere am 18. Mai 2025
Inszenierung: Peter Konwitschny
Musikalische Leitung: Gabriel Feltz
Dortmunder Philharmoniker