WA am 10.11.2013, (Premiere am 23.03.13)
Die literarische Vorlage Eugen Onegin, der Versroman von Alexander Puschkin, ist 1823 bis 1830 entstanden – vor dem soziokulturellen Hintergrund des Klassizismus mit den für die russische Literatur typischen ausufernden gesellschaftlichen Tableaus. Konstantin Schilowski hat daraus gemeinsam mit dem Komponisten das Libretto für die gleichnamige Oper geschöpft, die 1879 zur Uraufführung kam. Da hatte sich in Russland schon viel geändert. Noch mehr hat sich in den folgenden 80 Jahren geändert, denn nach etwa 1960 kann man die Mainzer Inszenierung der Oper von Johannes Erath verorten: Es gitb urtümliche Rollkoffer, Kofferradios und eine Kabine für Passfotos. Diese eher diffuse Verlegung des Stoffs in Gegenwartsnähe ist aber kaum von Bedeutung.
Ob Erath sich mit der Puschkin-Vorlage beschäftigt hat? Vom Russland nach den Befreiungskriegen fließt nur ein Samowar und vielleicht eine Videoprojektion in die Bebilderung ein. Russland ist denn auch für den Regisseur und seine Inszenierung auch nicht wichtig. Was ihm dagegen offensichtlich wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass es sich beim Werk nur um einige Szenen handelt, die aus Puschkins Rahmenhandlung genommen wurden, weshalb das Werk als „lyrische Szenen“ in drei Akten bezeichnet wurde. Diese Szenen haben keine stringente Dramaturgie, sondern sind in erster Linie Bilder oder Tableaus. Und gerade das ist es, was Erath auf die Bühne bringt: Bilder, die sich um die rudimentären dramaturgischen Vorgaben des Stücks gar nicht scheren, teilweise sehr starke, nachhaltig wirkende Bilder. Für die teilweise skurrilen gesellschaftlichen Tableaus lässt er sich viel einfallen und entfernt sie weit von Puschkins oder Tschaikowskys Vorlagen. Vielleicht hat Erath auch den Tschaikowsky-Text nicht gelesen; sicher aber hat er vorher die Musik gehört.
Den einheitlichen Bühnenrahmen mit vielen Variationsmöglichkeiten hat Katrin Connan gebaut. Im Bühnenhintergrund steht eine große quadratische Wand, die in lauter kleinere quadratische Felder mit einem erratischen Schwarzweißmuster eingeteilt ist. Unten in der Mitte ist eine Fotokabine in diese Wand eingebaut. Bei offenem Vorhang schon lange vor dem Anpfiff werkelt ein Bühnenarbeiter an dieser Wand herum. Das erste Bild ist schroff gegen den Text inszeniert. Die Larins sind auf der Reise. Bei „Handlungs“beginn bringt die Hebebühne Eisenbahnsitze und einen Gepäckständer nach oben. Die Larins befinden sich gar nicht auf ihrem Gutshof, sondern sie sind mit Sack und Pack mit der Eisenbahn unterwegs. Durch eine Projektion auf die Wand sieht man die weite Landschaft vorbeifliegen. Vielleicht reisen die Larins durch Russland, aber es kann auch Saskatchewan sein. Die Landarbeiter, mit ihrer slawischen Volklore die müden Füße besingend, die sie sich bei der Erntearbeit zugezogen haben, kommen hereingeströmt. Die müden Füße müssen sie sich beim Laufen neben dem Zug geholt haben, um auf diesen aufspringen zu können. Die Guts“nachbarn“ Lenski und Onegin werden zu Abteilnachbarn. Kaum ein Wort passt zu dem, was sich auf der Bühne abspielt.
Im zweiten Bild sind die vielen Eisenbahnsitze, auf denen das Personal zuvor wie mit Boxautos auf der Bühne hin- und hergefahren ist, bis auf einen verschwunden. Aus dem Gepäck- wird ein Kleiderständer. Man ist in einem Hotel eingelangt; die Filipjewna packt die Koffer aus und hängt die Wäsche auf. Tatjana hat sich in die Fotokabine zurückgezogen. Bei der langen Zugfahrt hat sie Frauenromane gelesen; nun hat sie Onegin kennengelernt und ist selbst in einem Roman angekommen: sie ist in den Nichtsnutz verliebt. In der Fotokabine, als ob das ein Alkoven wäre, schreibt sie den entscheidenden grenzüberschreitenden Brief. Man hört auf, sich über eine stringente Dramaturgie den Kopf zu zerbrechen und wendet sich den Figuren zu. Erath lässt die Fotokabine nach vorne fahren. Tatjana schreibt, die Filipjewna ist im Hintergrund eingeschlafen, hält aber schon den Brief in der Hand. Onegin nimmt ihn ihr aus der Hand und beginnt ihn zu lesen, während Tatjana immer weiter schreibt. Eine starke Szene mit der Verschränkung der Zeitebenen.
Chor beim Kontertanz
Die nächste Szene spielt im Wartesaal. Onegin hält Tatjana vor der Weiterreise noch schnell seine Gardinenpredigt. Ob die Larins irgendwann und irgendwo mal ankommen werden? Jawohl, auf einem Ball. Für den Festsaal wird der Bühnenboden etwas angehoben, von oben kommt eine Lichtbrücke mit Lampions herunter. Der an sich überflüssige Mensch Onegin betanzt nun Olga – sehr zum Ärger von deren Verlobten, dem Dichter Lenski. Es herrscht aber keine festliche Ballstimmung; alle sind in kalkiges Weiß gekleidet (Kostüme: Noëlle Blancpain); beim Walzer wird sich nicht schwungvoll und lustig gedreht, sondern es wird Schieber getanzt: ein Totentanz! Der Cotillon wird vom Chor im Sitzen mit rhythmischen Verrenkungen dargestellt, bis das Bild vor dem Schrecken des drohenden Duells einfriert. Vor dem Duell sitzt Lenski auf einem halbhohen Laufsteg und schreibt an seinen Memoiren. Was er wohl schreibt? Das wird gerade unten in einer Pantomime dargestellt; Lenskis Albtraum; Olga tanzt dauernd mit Onegin. Wieder eine ganz starke Szene! Mit einem Loch in der Stirn irrt Lenski nach dem Duell weiter zwischen den Beteiligten herum.
Die Saalregie hat die große Sektpause in die Mitte des zweiten Akts gelegt. Das führt zu dem makabren Ergebnis, dass nach Lenskis Lamento und seinem traurigen Tod und nur einer ganz kurzen Generalpause im Graben schon die Polonaise kommt. Sehr wirkungsvoll! Denn eigentlich sollten Jahre zwischen diesen Szenen liegen! Nun ist es der Ballsaal des Fürsten Gremins. Hier sind auch die Larins endlich angekommen. Des Fürsten elegante Gesellschaft tanzt in morbidem Schwarz. Onegin ist wieder Außenseiter; nun aber schreibt er an Tatjana. Und wieder wird da so gestellt, dass Tatjana den Brief zeitgleich liest, wie er geschrieben wird. Tatjana bekennt sich zu ihrer neuen Rolle als Fürstin Gremin; Onegin bleibt draußen. Erschießt er sich nun? Wenn Erath seine großen Szenen in einen besser schlüssigen Rahmen gelegt hätte, wäre es eine große Regiearbeit geworden. So ist es „nur“ ein packender Opernabend, von dem auch etliches Sinnentleertes haften bleibt. Auffällig ist die gekonnte Partitur-nahe Bewegungsregie.Ein Verdienst der Regiearbeit ist zweifellos, dass kein Rührstück zum Mitweinen geboten wird, sondern durch die Verzeichnungen ständiges Missbehagen übertragen wird.
In gewissem Maße „mitschuldig“ daran ist die musikalische Interpretationsarbeit von Florian Csizmadia am Pult, der mit dem prächtig aufgelegten Philharmonischen Staatsorchester Mainz einen packenden Tschaikowsky mit viel Tiefgang musiziert. Man hatte sich in Mainz für die Originalfassung entschieden, die weniger Pathos und weniger Prunk aufweist. So ist dort die Ecossaise der späteren „Normalversion“ noch nicht enthalten. Neben der vor allem in der ersten Chorszene mitverarbeiteten slawischen Folklore lassen aus der Partitur des „Westlers“ Tschaikowsky Verdi und die deutschen Romantiker grüßen. Pastellfarben zart ließ Csizmadia aufspielen, aber auch verdianisch dramatisch aufgeladen. Es wurden lange kohärente Bögen mit einer spannenden Dynamik und große emotionale Tiefe musiziert. Das Orchester gab sich dabei keine Blöße. Die hier so prominenten Holzbläser, Oboe, Klarinette und Fagott, vielfach im solistischen Einsatz, waren traumhaft sicher; gefühlvoll der Schmelz der Celli. Für Ihren Kritiker, der alles andere als ein Tschaikowsky-Adept ist, eine neue Erfahrung. Lediglich die Hornisten wichen dem Risiko einer ganz zarten Intonation aus und kamen zu kräftig. Der Chor des Staatstheaters war von Sebastian Hernandez-Laverny bestens präpariert.
vorn in der Mitte: Tatjana (andere Sängerin) und Lenski (Thorsten Büttner)
Auf homogen hohem Niveau gestalteten auch die Gesangssolisten ihre Rollen. Mit der Litauerin Vida Mikneviciute war eine Tatjana besetzt, deren zerbrechlich wirkende Bühnenerscheinung idealtypisch zur Rolle passte. Sie wies ein großes Spektrum in Spiel und Gesang vor. Ihr anrührend inniges und zartes Spiel korrespondierte mit der musikalischen Interpretation ihres feinen, hellen und klaren lyrischen Soprans. Ganz leichte Schärfen beim Forcieren in hohen Lagen muss man ihr noch nachsehen. Aber welch Riesenleistung in der langen Briefschreibeszene! Sanja Anastasia aus Serbien sang mit berückendem tiefen Mezzo die Rolle der Olga und bestach mit ihrem stimmlichen Fokus. Patricia Roach, langjähriges Ensemblemitglied, überzeugte als Larina mit ihrem schönen glatten Mezzo von mütterlich dunkler Tönung. Perfekt auch ihre Bühnenerscheinung in dieser Rolle. Die Reihe der tieferen Frauenstimmen schloss Katherine Marriott als Filipjewna ab, die die kleinere Rolle mit rundem schön tönendem, Mezzo gestaltete. Thorsten Büttner als Lenski ließ ich als erkältet ankündigen, was in seinen etwas zurückgenommenen hohen Passagen auch hörbar wurde. Da schonte er sich zu Recht, aber den schön grundierten Schmelz seiner Mittellage brachte er vorteilhaft zur Geltung. Gut wurde er der Rolle des schwärmerischen weltfremden Dichters gerecht. Mit dem vielseitigen Heikki Kilpeläinen konnte das Staatstheater eine weitere männliche Rolle prächtig aus dem Ensemble besetzen. Sein viriler, kerniger, aber zugleich geschmeidiger Bariton überzeugte in der Titelrolle. Mit José Gallisa und seinem profundem, voluminösen Bass war auch der Fürst Gremin adäquat besetzt. Als Luftballonverkäufer trat Jürgen Rust als Monsieur Triquet auf. Seine Couplets wirkten durchaus parodistisch ebenso wie die französische Diktion des Tenorbuffos. In den Nebenrollen Saretzki und Hauptmann verlässlich der Bass von Dietrich Greve.
Für die Transliteration aus der kyrillischen Schrift ins lateinisch geschriebene Deutsche gibt es seit langem feste Regeln. Mehr und mehr wird davon unter amerikanischem Einfluss abgewichen. Man braucht da ja nicht päpstlicher als der Papst zu sein. Aber warum im Programmheft Tschaikowskij und Lenskij geschrieben wird, ist dennoch hinterfragenswert.
Leider war das Haus nur mäßig besucht. Und da in ganzen Reihen nur Studenten saßen, hatte das Staatstheater hier wohl eine Aktion durchgeführt. Einige Besucher kehrten nach der Pause nicht mehr in den Saal zurück. Der Beifall aber war verdientermaßen sehr herzlich und lang anhaltend. Allen, die nicht nur auf Opas Oper setzen und sich den beschriebenen Regie-Skurrilitäten nicht verweigern, kann der Besuch dieses musikalisch glänzend gestalteten, spannenden und nachhaltigen Abends sehr empfohlen werden. Gelegenheit hierzu gibt es noch am 15.11. sowie am 06., 18., und 26. Dezember.
Manfred Langer, 11.11.2013
Fotos: Martina Pipprich
Besprechung der Premierenserie mit weiteren Bildern weiter unten, ggf. im Archiv