Nürnberg: „Jakob Lenz“

Premiere: 23.6. 2019

„Lenz ging übers Gebirg“ – so beginnt eine der berühmtesten Erzählungen der deutschen Literatur. Sie blieb fragmentarisch wie das Leben des Autors, Georg Büchner, und sie schilderte das fragmentarische Leben eines Mannes, der im 20. Jahrhundert, nicht zuletzt durch eine bedeutende Oper, wiederentdeckt wurde. Jakob Michael Reinhold Lenz aber war nicht allein für den Komponisten der unvergleichlichen „Soldaten“ interessant. Vor 40 Jahren schrieb der damalige Shooting Star der Neuen Musik, Wolfgang Rihm, eine „Kammeroper“, die sich seit der Uraufführung im Seitenrepertoire der Moderne einen komfortablen Platz gesichert hat. Liegt’s daran, dass das Werk, obwohl es orchestral sparsam besetzt, wenn auch technisch notorisch schwierig zu exekutieren ist, in Wahrheit die Züge einer großen, wenn auch relativ kurzen Oper aufweist?

Man hat zumindest den Eindruck, wenn man die Neuinszenierung von Tilman Knabe besichtigt. Als die Oper 1981 an der Deutschen Oper Berlin erstaufgeführt wurde, fand, das war eine typische und ungewollt unterschätzende Haltung gegenüber dem Werk, das Kammerstück vor dem Eisernen Vorhang statt: mit den Stimmen, die Lenz bedrängen, und die aus seinem Kopf quellen, im Orchestergraben oder der Gasse. In Nürnberg wird die gesamte Bühne genutzt – und die „Stimmen“ sind Rollen (in Nürnberg also Andromahi Raptis, Julia Grüter, Irina Maltseva, Almerija Delic, Daeho Kim und Tadas Girininkas, gewiss nicht die Schlechtesten ihres Fachs). Ganz abgesehen davon, dass der Anspruch, den Rihm seinerzeit und heute an den Interpreten der Titelrolle stellte, exorbitant sind. Lenz steht die gesamte Zeit auf der Bühne, er hat in den diversen Ausdrucksmitteln einer Neuen Vokalität zu glänzen, er entäußert sich zudem auf exzessive Weise, er hat – gut – zu sprechen und zu spielen, er ist praktisch der Held einer Anti-Held-Oper. Denn der in den (scheinbaren?…) Wahnsinn abdriftende Dichter und Denker, der „zu viel grübelt“, steht immerzu an (s)einer Grenze. Hans Grönig ist dieser Mann, er spielt und singt ihn mit Inbrunst und voller Kontrolle der akustischen Mittel, er wirft sich in die prekäre Gestalt, um uns klar zu machen, dass die Verrückten nicht Leute wie er, sondern die Angepassten wie der von Hans Kittelmann messerscharf artikulierte Herr Kaufmann, der Vertreter einer althergebrachten Regelpoetik, sind. Grönig bringt Büchners und Lenz‘ Idee einer Kunst, die es mit dem Schmutz zu tun haben muss, derart überzeugend über die Rampe, dass nur ein junges Pärchen während der Aufführung aus dem Saal flüchtet.

Ist eben nicht „schön“, dieses Werk, das die Probe aufs Exempel macht, indem die „Penner“ und Huren – ganz im Sinne Büchners – als darstellungswürdige Individuen gezeichnet werden: in all ihren brutalen Widersprüchen. Riesenbeifall also für diese Leistung, die vergessen lässt, dass manch Regiemittel sich in der Drastik längst erschöpft hat. Fatalerweise aber ist eine niedergeknüppelte Demo, in der die Parolen der Gegenwart wie Fanale aufscheinen (per exemplum: „Rettet die Bienen“), oder der Knüppel-Terror, dem Lenz auf der Polizeiwache ausgesetzt ist, so banal wie realistisch. Dilemma des „Regietheaters“… Auch Knabe, der ein Gespür für szenische Abwechslung, für psychologisch starke Ausdeutungen der miniaturhaften Szenen hat, entkommt ihm nicht; am Ende aber siegt das Musik-Theater über bloße Behauptungen: denn dieser Lenz ist ein Opfer jener verlogenen Gesellschaft, die im Lauf der Jahrhunderte nur ihr Kostüm gewechselt hat. In diesem Fall bewegen wir uns im Zwischenraum zwischen der bunten Welt der schicken Werbeplakate und der schmutzigen Straße. Annika Haller hat, mit den Arbeiten des vor allem in Asien tätigen Fotografen Michael Wolf, einen technisch schnell verwandelbaren Kunstraum entwickelt. Und wenn am Ende Dutzende von Din-A-4-Blättern mit Büchner- und Lenz-Texten von den Rängen ins Parkett fliegen, haben wir es mit einem wunderschönen wie, im Sinne Goethes, „bedeutenden“ Bild zu tun. „Der Hessische Landbote“ war schließlich auch ein Vorläufer der Flug(!)-Schriften der Weißen Rose, und Lenzens bittere Gedichte ein Ausdruck seines Fühlens.

Und also sehen wir Lenz zunächst als Penner mit dem bekannten Tütenkarren an einem EC-Gerät, Karten ausprobierend, die nur noch beweisen, dass alle Konten leer sind. Halt gibt fast nur noch der Albtraum der toten Geliebten, die im Blaulicht – so langsam wie viele der schemenhaften Stimmen – zeitlupenhaft über die Bühne wandelt. Ist Lenz wirklich wahnsinnig? Ist die Ironie, mit der er in der Speaker’s corner seine unverständliche Predigt herauslässt, nicht der Vorschein einer höheren Wahrheit? In höherem Sinne vernünftig scheint es, wo Büchners berühmtester Slogan absurd verdreht wird: „Krieg dem Frieden – Hütten den Palästen“ – man kann das auch richtig lesen. Grönig wechselt vom falschen Pathos zum richtigen, schwingt und zertrümmert dann verzweifelt ein Lichter-Kreuz, wie auch Büchner an den Lehren Jesu interessiert war; die Armenspeisung für die Angehörigen des untersten Prekariats ist eine Regie-Idee, die sich, wie die allegorische Miss Liberty, die Lenz zum Schreiben zwingt, ganz auf Büchners Ethos berufen kann – so wie die Lyrik dieser Partitur als nötiges Korrektiv zu Lenzens Exaltationen herüberklingt. Sie wird von der Staatsphilharmonie Nürnberg zusammen mit einem Kinderchor unter

Guido Johannes Rumstadt mustergültig gebracht.

Am Ende wird Lenz blutüberströmt, wie ein zweiter Erbärmdechristus, auf dem Boden liegen. Auch Oberlins Bemühungen konnten ihn nicht retten, so stimmschön auch Wonyong Kang die kleine und wichtige Partie gestaltet, deren Motivation Knabe übrigens aus einer seltsamen Stelle bei Büchner herausdestillierte: der Kuss, den der philantropische Pfarrer seinem Schäfchen da auf die Lippen drückt, ist bei Knabe weit sexueller. „Konsequent“, wie es bei Büchner und, hier besonders extrem, weil 17mal gesungen, bei Rihm am Ende heißt. „Nicht lustig“, so nennt man das wohl – aber die Nürnberger haben Rihms nach wie vor interessantes und interpretierbares Werk so spannend und musikalisch differenziert gebracht, dass man ein unverständiger Kaufmann sein müsste, um vorzeitig den Saal zu verlassen.

Frank Piontek, 24.6. 2019

Fotos: ©Bettina Stöß